Links im Sinnraum
Zeile beherrscht Spalte und dominiert das Denken (Daily Dueck 62)
Im Leben zählt meist nicht nur eines, oft auch ein anderes. Wir versuchen, dann zweidimensional zu denken, was wir nicht wirklich können. Wir stellen unsere Gedanken hilfsweise in einer Tabelle dar. Und jetzt verrate ich Ihnen ein Geheimnis: Das Wichtige schreiben Sie irgendwie immer in die Zeilen. Und deshalb irren Sie so oft. Zweidimensionales Denken ist wirklich in höherer Dimension, nicht erst Zeile, dann Spalte. Huuh, das ist zu theoretisch, ich weiß.
Konkret: Stellen Sie sich eine normale Produktionsfirma oder, sagen wir, eine Bank vor. Eine Bank hat Kunden, die dort Dienstleistungen oder einen Service erwarten. Die Bank bietet den Kunden die Services an. Der Bankberater hat Kunden, die er betreuen soll. Die sind in einer Tabelle niedergelegt.
1. Zeileneintrag: die Kundenliste!
2. Spalteneintrag: hinter jedem Kunden stehen in verschiedenen Spalten,
welche Services dieser Kunde in Anspruch nimmt (Sparbuch, Konto, Bausparvertrag,
Kreditversicherung etc.)
Mit dieser Tabelle arbeitet der Betreuer. Wenn ein Kunde kommt, schaut er auf die Tabelle und schaut nach, mit wem er es zu tun hat. (Natürlich schaut er das im Computer auf dem Kundendatenblatt an.) Das Vorgehen des Betreuers ist „kundenorientiert“.
Hinter dem Betreuer der Kunden aber ist die Bank, die sich überlegen muss, welche Services sie den Kunden anbieten will. Dazu könnte sie den Kunden selbst befragen, was sie in früheren Zeiten einmal getan hat. Aber der Kunde einer Bank kommt ja nicht von selbst darauf, dass er Schweinebauch-Olivenöl-Hausse Combi-Zertifikate mit Immobilienrisikoanteil kaufen möchte. Diese heute so genannten „Produkte“ einer Bank werden sorgsam für den Endverbraucher designed, so wie etwa die Lebensmittelkonzerne nicht mehr fragen, was wir essen wollen, sondern ganz neue Märkte für Marmeladen mit Hautstraffungswirkstoffen entfalten. In der Zentrale der Bank wird also über das Produktportfolio nachgedacht, das man dem Kunden anbieten und neuerdings mehr oder weniger lächelnd brutal „reindrücken“ möchte. Zu jedem Produkt gehört der Gewinn, den man damit macht – der ist mal hoch (meist bei extra so entworfenen Produkten, die der Kunde nicht versteht), mal niedrig (Girokonto zum Nulllocken). Der Produktionschef sitzt deshalb - verstehen Sie den Unterschied? - nun vor einer ganz anderen Tabelle:
1. Zeileneintrag: die Liste der Produkte
2. Spalteneintrag: Kunden, die dieses Produkt kaufen SOLLTEN.
Der Produktionschef hat Lieblingsprodukte – das sind die, mit
denen viel verdient wird. Der Kundenbetreuer hat Lieblingskunden –
das sind die, die viel kaufen und viel Gewinn bringen. Der Produktionschef
ruft immerfort: „Verkauft absolut nur meine Lieblingsprodukte,
sonst nichts!“ Aber der Kundenbetreuer entgegnet: „Liefert
bitte nur Produkte, die meine Lieblingskunden wollen!“
Diese Sichtweisen sind nicht direkt entgegengesetzt, aber schon sehr
anders. Die eine Sichtweise ist produkt- oder spartenorientiert, die
andere ist auf Kunden zentriert. Diese beiden Sichtweisen beißen
sich irgendwie. Man könnte nun einen Kompromiss finden, nämlich
gemeinsam zweidimensional denken. Das aber gelingt niemandem! Deshalb
gibt es irgendwie immer diese zwei Sichtweisen oder Tabellen, eine
mit den Kunden in der Zeile, eine mit den Produkten.
Es kommt darauf an, welche Tabelle der Boss auf dem Schreibtisch hat! Danach richtet sich dann die ganze Unternehmenskultur. Wenn die Bank nach Kunden aufgestellt ist, sorgt sie sich um diese. Was die Kunden wollen und was richtig für sie ist, bekommen sie. Die Kunden sind treu und vertrauen der Bank. Die Bank verdient mäßig viel damit und wirtschaftet zufrieden alle Tage bis zum 200jährigen Jubiläum. Wenn aber die Bank nach Produkten aufgestellt wird, wetteifern die Produkte miteinander, verkauft zu werden. Die Bausparsparte schimpft auf den Versicherungsteil der Bank, das Geschäft zu verderben. Die Investmentsparte will gar keine Bausparer haben. Sie zanken miteinander, wer dem Kunden zuerst angeboten werden soll. Sie alle gehen zum Betreuer und treten ihn ins Kreuz und tiefer, damit er NUR ihre Produkte verkauft, damit sie intern Erfolg haben.
Der Betreuer wirft irgendwann das Handtuch, weil ihn die Kunden verfluchen, die den Druck hinter ihm ahnen. Da strukturiert die Bank um und eröffnet verschiedene Schalter. Wenn der Kunde kommt, geht er nun nicht mehr zum Betreuer, sondern zum Bausparbetreuer, zum Anlagebetreuer oder zum Kreditbetreuer. Die Produkte stehen jetzt intern im Wettbewerb gegeneinander. Die Produkte lauern dem Kunden wie Sirenen dem Odysseus auf, damit er sie kauft. Da verstopft sich bald der Kunde die Ohren und brüllt: „Ich will wieder einen einzigen Betreuer!“
Sehen Sie? Es kommt darauf an, ob der Boss eine Tabelle mit Kunden oder mit Produkten in der Zeile auf dem Schreibtisch hat. Je nachdem denkt er an seine Lieblingskunden oder an seine Lieblingsprodukte. Früher dachte er an Kunden. Da kamen Berater und brachten ihm „Produktbranding“ dadurch bei, dass sie ihm für viele Millionen Honorar die Zeilen mit den Spalten in der Tabelle vertauschten. Dadurch kam der Profit der Produkte in den Vordergrund. Der Kunde bekam nun nicht mehr, was er wollte, sondern nur noch die Lieblingsprodukte der Bank. Das merkte er mit der Zeit und begann weniger zu kaufen und die Bank zu wechseln. Er eröffnete überall Nullgirokonten und schaute herum.
Heute tobt dieser Kampf. Lieblingsprodukt oder Lieblingskunde? Zeile oder Spalte? Entweder – oder! Keiner denkt echt zweidimensional. Soweit ist die Wirtschaftswissenschaft noch nicht. Und deshalb können das Manager noch nicht wissen, wenn es kein Rezept beim MBA-Studium war.
Verstehen Sie jetzt, warum die Produktmanager immer auf den Vertrieb schimpfen? „Diese Deppen können mein teueres Produkt nicht verkaufen. Rausschmeißen, alles Dilettanten!“ Und die Verkäufer winden sich vor ihren Lieblingskunden, weil sie ihnen nicht liefern sollen oder auch nicht liefern können, was die Kunden möchten. Sie schimpfen auf die Produkte: „Komplett am Kunden vorbeiproduziert! Die Produktionsheinis haben keine Ahnung! Sie haben noch nie einen Kunden gesehen, diese Deppen!“ Der eine denkt an das Produkt in der Zeile, der andere an den Kunden in der Zeile. Sie verstehen sich nicht, weil sie eine Präferenz in der Dimension haben. Dann laufen sie im Streit zum Boss und dessen jeweiliger Halbblindheit entscheidet über die Priorität. Je nachdem ist das Unternehmen nach Kunden oder nach Produkten ausgerichtet oder aufgestellt. Beides geht irgendwie nicht so gut. Deshalb wechselt man den Boss alle paar Jahre aus gegen einen anderen, der wieder Zeilen und Spalten vertauscht.
So geht es hin und her. Produktorientierung macht die Firma gierig und innerlich zerstritten, sie macht aber am Anfang hohe Gewinne, weil der Kunde noch nicht merkt, was man mit ihm vorhat. Kundenorientierung geht sehr auf den Kunden ein und beschert nur mäßige und stetige Gewinne, bis es einem Boss zu langweilig wird und es zum neuerlichen Tabellensturz kommt. Hin und her, weil wir trotz aller zweidimensionaler Tabellen doch eigentlich herzlich eindimensional denken.
Welche Tabelle liegt vor Ihnen?
Kundenzeilen wie lauer Friede oder Produktzeilen mit stressigem Kampf?