Links im Sinnraum
Über Konferenzpausen (Daily Dueck 57)
„Ich darf Sie ganz herzlich zu unserer Konferenz begrüßen. Es ist alles auf das Beste vorbereitet. Wir haben uns viel vorgenommen. Ein dichtgepacktes Programm erwartet uns. Wir haben jetzt leider durch das Kaffeetrinken am Anfang schon 15 Minuten Puffer eingebüßt. Wir sind etwas lax gewesen, weil wir ja wissen, wie wichtig die Pausen bei einer Tagung sind, besonders für Sie als Konferenzteilnehmer. Sie wollen ja auch Netzwerke während dieser Veranstaltung bilden. Das verstehen wir gut. Wir müssen jetzt aber wirklich mit der Konferenz beginnen.
Denn die meisten von Ihnen fliegen um 17 Uhr ab, wofür wir einen
Bus gechartert haben, der mit dem Konferenzbeitrag abgegolten ist.
Deshalb müssen wir das Programm mit einer gewissen Gnadenlosigkeit
durchziehen. Es geschieht in Ihrem eigenen Interesse. Damit alles
schnell geht, will ich auch keine weiteren Worte verlieren und Sie
nur begrüßen. Wir beginnen mit einem begnadeten Dauerredner,
der immer wieder dieselben Thesen wunderbar variiert. Sie kennen schon,
was ihn bewegt: Es geht um das Neue. Das Neue! Sie sind ja deswegen
alle gekommen und haben einen heftigen Konferenzbeitrag dafür
bezahlt. Dieses Thema, das Neue, lockt Sie jedes Jahr aufs Neue her.
Wir führen die Tagung nun schon seit 20 Jahren im immer gleichen
Format. Danke, dass Sie wieder den Weg zu uns gefunden haben. Unsere
Tagung ist damit außerordentlich erfolgreich. Ich möchte
angesichts der knappen Zeit Ihnen nur kurz in drei oder vier vorbereiteten
Statistiken zeigen, wie sehr die Teilnahme über die Zeit ansteigt
– dadurch hoffe ich, dass Sie die Idee unserer Tagung mit den
hohen Beiträgen weiter tragen und uns weiteres teures Marketing
ersparen. Wir haben in diesem Jahr zwei Teilnehmer mehr als im letzten
Jahr. Wenn sich diese Tendenz noch tausend Jahre fortsetzt, wird jeder
Saal zu klein. Also vielleicht doch zum Redner. Wie Sie wissen, ist
die Welt im Umbruch begriffen. Darauf müssen wir uns alle einstellen.
Das Neue kommt unaufhaltsam. Es kündigte sich schon seit einigen
Jahren in Finnland an, wo es viel mehr Internet gibt. Jetzt steigert
sich das Neue zu einer Art Revolution, die alle Bereiche unseres Lebens
durchdringt und befruchtet. Es geht um nichts weniger als um unsere
gemeinsame Zukunft. Ich will Sie daher auch nicht mehr auf die Folter
spannen. Ich kann Ihnen nur den allerberufensten Redner ankündigen,
der etwas zum Neuen sagen kann. Er tut das, wie gesagt, schon sehr
lange und äußerst eindringlich und hofft, dass ihm jemand
einmal zuhört. Er ist ein Visionär ersten Ranges. Er eröffnet
einen spannenden Tag, der für Sie bis zum stressfreien Abflug
mit Informationen nur so voll gepfropft ist. Wir haben diese Konferenz
lange vorbereitet. Jetzt kann es losgehen. Ich freue mich so sehr,
dass Sie da sind … Huh, jetzt überziehe ich wieder. Ich
sollte auch eigentlich laut Agenda gar nichts sagen, weil wir dann
mit der Zeit aus dem Ruder laufen. Aber das Herz ist mir so voll,
das werden Sie verzeihen. Wir brauchen hinterher auch unbedingt eine
Kaffeepause, Kaffee hin und her, einfach weil in der Halle viele Firmen
kleine sündhaft teure Stände aufgebaut haben, wo sie mit
Pfefferminztabletten mögliche Kunden zu Abschlüssen locken
wollen. Wenn die Kaffeepause zu kurz kommt, bekommen wir Ärger
mit den Platin-Sponsoren, denen die Reden ganz egal sind, weil das
Standpersonal ja immer vor dem Saal warten muss. Deshalb rede ich
jetzt so furchtbar schnell. Ich denke, ich trage selbst zur Straffung
der Agenda bei und stelle Ihnen den ersten Redner gar nicht lange
vor, sondern ich überlasse es ihm selbst, viel angemessener über
sich selbst zu sprechen. Seine 45minütige Rede beginnt ohnehin
eine längere Zeit mit einer Vorstellung wissenswerter Fakten
über die eigene Firma, denn die hat für den Redeslot bezahlt.
Nach diesem mehr objektiven Teil versucht er dann, auch persönliche
Wertungen über Produkte des Neuen einzubringen. Das ist eigentlich
der interessante Teil nach dem ersten wissenswerten.
Darf ich Sie also auf die Bühne bitten … - ah, ich erfahre
gerade, dass der Redner soeben eingetroffen ist und mit dem Mikro
verkabelt wird. Ach, jetzt verstehe ich, warum alle in meinem Team
so nervös waren. Sie haben es mir nicht gesagt – ach, und
ich rede hier und habe keine Ahnung, was hier überhaupt vor sich
geht. Ich sage dann schon einmal wegen der Zeit, dass sich auch die
restlichen Redner selbst vorstellen sollen und ihre Reden kürzen
müssen. Bitte verständigen Sie sich darüber gegenseitig
in der Pause, wenn wir eine haben sollten. Wie gesagt, die Pause ist
das Wichtigste und da ist der Zeitplan peinlich genau zu beachten.
Sind die anderen Redner schon da? Ich schaue einmal in die Runde.
Bitte konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche, vieles lässt
sich sehr schnell sagen, wenn man sich konzentriert. Okay, endlich
ist auch der Beamer angestellt, wir mussten noch den fremden Laptop
anschließen, wir haben ursprünglich die aktuellen Folien
vom Redner genommen, die er uns vor einigen Jahren bei einer anderen
Rede geschickt hat, die laufen aber nur auf Windows 95, kann auch
sein, wir haben sie verloren.
Eine Stunde später.
Die Veranstalterin, repräsentativ blond in Schwarz kostümiert,
zeigt seit 15 Minuten handbeschriebene Tafeln, der Redner möge
endlich aufhören. Das macht die Tagungsteilnehmer nervös,
die hilfsbereit mit den Augen rollen und unterstützend signalisieren,
dass sie genug von der Rede über das Neue haben. Einzelne beginnen,
verzweifelt anklagenden Beifall zu klatschen. Der Redner: „Ich
musste das einfach noch sagen. Es ist so wichtig, ich sage es immer
wieder. Ich kann nicht betonen, wie wichtig es ist. Es kann nicht
oft genug gesagt werden. Ich habe meine Kernaussagen in drei Folien
am Ende meines Vortrages noch einmal äußerst knapp zusammengefasst,
mit denen ich nun ein Ende mit Ihnen mache. Sie werden sie kaum lesen
können, weil sie kleingedruckt fast alles enthalten, was ich
weiß. Ich weiß, dass Folien nicht so voll sein sollten.
Klar, aber mein Thema ist über solche formalen Erwägungen
absolut erhaben. Lassen Sie mich noch einmal kurz durchgehen ...“
Fünfzehn Minuten später.
Jubel. Der Redner endet. „Haben Sie in Anbetracht der allergrößten
Zeitknappheit noch Fragen?“ Jemand meldet sich: „Kennen
Sie das Buch über die Maoami aus Haribonien, das sich schon vor
vier Jahren mit dem Neuen auf dem tasmanischen Festkontinent befasst
hat?“ Draußen duftet es nach Kaffee. „Ja, meine
Damen und Herren, wir hatten an dieser Stelle eine reichhaltige Kaffeetafel
bereithalten wollen, aber in Anbetracht der Zeit und unseres vollen
Programms können wir uns den Kaffee ja kurz in den Raum mit hinein
bringen. Wir sind ja alle Businessleute und wissen, wie kostbar unsere
eigene Zeit ist, mit der wir nicht spaßen dürfen. Ich sage
dann sofort den nächsten Redner an – äh? Schlechte
Luft? Ja – gut – Sie sind die zahlenden Teilnehmer und
haben die Macht über uns. Gut, ja, dann sollten wir wirklich
nur fünf Minuten die Fenster öffnen und das Biologische
regeln und sofort wieder absolut pünktlich hier sein, weil das
in aller unser Interesse ist und weil der nächste Vortrag so
wichtig ist. Bitte lassen Sie uns in dreieinhalb Minuten wieder beginnen.
Einverstanden? Ja! Das freut mich so sehr!“
Zwanzig Minuten später.
„Bitte, wir sollten jetzt wirklich anfangen. Wir haben einen
berühmten Redner für Sie gewinnen können. Wir sind
stolz darauf, ihn begrüßen zu dürfen. Er redet über
ein ganz neues Zeitalter, in das wir eintreten. Es ist ein anderes
Zeitalter als in der ersten Rede, das haben wir für Sie so geregelt.
Ich selbst bin schon gespannt. Übrigens, das Wichtigste habe
ich vergessen. Sie sollten auf Ihrem Platz Feedbackfragebögen
liegen haben. Wir bitten Sie, die Reden zu bewerten. Es hängt
viel für uns davon ab, wie die Bewertungen sind. Manche von uns
werden danach gemessen, und überhaupt ist es interessant für
uns zu wissen, wie gut unsere Reden eigentlich sind. Das können
wir selbst nicht wissen, weil wir keine Teilnehmer sind. Wir haben
dafür Prozesse. Natürlich wissen wir, dass Sie schon heute
morgen im Hotel Fragebogen ausfüllen mussten, ob die Duschköpfe
in Ordnung sind und die Heizung freundlich ist, aber Sie wissen ja
selbst, dass ein Servicegeber auf Feedback angewiesen ist, sonst weiß
er ja nicht, was er machen soll. Ich habe ja auch einen Fragebogen
für äh für äh meine Bank zum Beispiel ausgefüllt,
das waren viel schwerere Fragen als diese hier über die Reden.
Ich wusste zum Beispiel nicht, ob die Fußböden in der Bank
immer frisch gewischt sind, weil ich nur online gehe. Ich habe dann
erst meine Frau hingeschickt; hui, da haben Sie sich eine schlechte
Note eingefangen. Bitte schreiben Sie klar und deutliche Zahlen, damit
wir dann Mittelwerte, Varianzen, Down-Streuungen und unsere Incentives
berechnen können. Sie bekommen dafür, wenn alles ausgefüllt
ist, ein kleines Geschenk, weil Sie erfahrungsgemäß ohne
Geschenk gar nichts tun, obwohl die Geschenke ganz wertlos sind.“
Zehn Minuten später. Eine Stunde später. Fünfzehn Minuten
später. Eine Stunde später.
„Ich bin so froh, dass wir das Mittagessen, das noch so eben
gerade als lauwarm bezeichnet werden kann, so schnell während
der Standbesichtigung schlucken konnten. Ich habe mit den Restrednern
gesprochen, ihre Reden dramatisch zu kürzen. Das ist praktisch
unmöglich und muss trotzdem gemacht werden, weil der Flughafen
sagte, es gäbe keine Ersatzmaschinen. Sie müssen die Redner
verstehen. Wir haben Monate Vorlauf. Der Termin steht acht Monate
vorher fest. Wir planen genau. Auf die Minute. Die Redner müssen
die Folien drei Monate vorher abgeben, damit wir Ihnen eine dicke
Mappe mitgeben können, weil das ein Bewertungspunkt im Feedbackbogen
ist. Wir haben nur wenige Farbdrucker, wir müssen lange vorher
anfangen, meist schaffen wir nur schwarzweiß, das macht aber
nichts. Ich habe zu Hause einen ganzen Keller voll von Tagungsmappen,
die noch in den Originalrucksäcken sind. Es ist heute üblich,
schwarze Billig-Rucksäcke mitzugeben, als Goody, weil die meisten
Teilnehmer die Tagungsmappen nicht in den Koffer bekommen. Deshalb
bekommen Sie alles noch auf CD, mit einem aufwändigen Installationsprogramm,
das eine halbe Festplatte beansprucht. Das müssen wir alles mit
den Rednern monatelang regeln. Irre Logistik. Darauf sind wir stolz.
Die Redner bekommen dann alle paar Tage über Monate hinweg E-Mails.
Sie müssen mal den Titel angeben, dann wieder einen Abstract
schreiben, dann müssen sie ein anderes Mal sagen, ob sie einen
Beamer brauchen oder einen Hotelwunsch haben. Wir möchten dann
plötzlich, weil zum Beispiel ein Journalist dabei sein könnte,
von allen etwas Schönes für die Pressemappe. Dann wollen
Sie als Kunden manchmal den Lebenslauf des Redners, in drei Sprachen.
Es sagen dann vor Ärger oft Redner ab oder sie finden eine reklamewirksamere
Tagung. Deshalb disponieren wir täglich um und ändern die
Agenda nach den verschiedenen Anreiseproblemen. Ich selbst musste
mich ja heute Morgen in der Nacht schon eine Stunde aus dem Hallenaufbau
ausklinken, weil ich per Telekonferenz ein Review meiner Geschäftszahlen
hatte. Mein Chef wollte wissen, wie viele Teilnehmer heute kommen,
er konnte nicht warten. Ich habe versprochen, Sie alle in der Pause
am Morgen zu zählen, aber die Pausen sind ja ausgefallen, deshalb
ist wieder ein Review heute Nachmittag in der Pause. Ich habe kaum
Luft zu atmen, wir sollten die Fenster doch öffnen. Herrliche
Natur! Ich will sagen: Wir können kaum besser optimieren. Mehr
können wir wirklich nicht tun! Unsere Organisation ist perfekt.“
Eine Stunde später etc.
Die Kunden ziehen sich schon die Mäntel über. Der Bus hupt
ungeduldig. Die Menschen fliehen.
Der letzte Redner kommt auf die Bühne, der Saal ist fast leer.
„Nun kündige ich Ihnen das absolute Highlight des Tage
an … darauf fahren die Teilnehmer nach unseren Erfahrungen voll
ab.“
Lagebesprechung der Veranstalter danach, die Kunden sind schon wirklich
voll abgefahren.
„Das Programm war zu voll. Ich wusste irgendwie, dass das Programm
zu voll ist. Das war am Anfang gar nicht abzusehen, weil es praktisch
keine guten Redner gibt, und wir hatten erst keine. Aber dann hatten
wir wieder zu viele gegen Geld. Ich möchte, dass wir nie vergessen,
dass die Pausen das Wichtigste sind. Der Kunde sagt uns das immer
wieder, dass er hauptsächlich auch deshalb herkommt, weil es
eine Gelegenheit ist, andere Firmen und CEOs und CTO kennen zu lernen,
wieder zu treffen und sich mit ihnen auszutauschen. Wir werden wieder
Beschwerden der Standpersonale bekommen, die praktisch ganz umsonst
alles aufgebaut haben. Ich habe mir überlegt: Es liegt an den
Vorträgen. Die müssen ja sein, sonst ist es keine Tagung.
Die Reden verhindern leider das Anbahnen von Geschäften, wofür
wir die Pausen eingeplant hatten. Ich habe mir überlegt, warum
das alles so kommt. Ich habe erkannt: Die Zeit ist einfach zu kurz.
Versteht ihr? Die Zeit ist einfach zu kurz. Man kann es sich einfach
nicht leisten, eine Pause zu machen, weil Pausen wieder sehr viel
Zeit kosten.
Es ist deshalb nicht alles falsch, was wir machen.
Das zeigen auch die Feedbackbögen. Immerhin hat die Hälfte
der Teilnehmer etwas ausgefüllt. Wir mussten natürlich allen
dafür Rucksäcke und Schlüsselanhänger geben. Trotzdem.
Die Wertungen sind gut. Im Durchschnitt 2,04. Damit können wir
zufrieden sein. Sehr viele Kunden haben geschrieben, sie würden
sich mehr Pausen wünschen, verdammt noch einmal. Das sagen sie
praktisch nach jeder Tagung, die wir organisieren, weil die Pausen
ja immer ausfallen. Das brauchen wir außerdem gar nicht zu berücksichtigen,
weil wir es ja selbst schon gemerkt haben. Das ist also nichts Neues.
Es läuft also alles auf mehr Pausen machen hinaus. Ha, wenn das
die einzige Kritik ist! Damit können wir leben. Gut leben sogar.
Es ist nichts einfacher als lange Pausen zu machen! Kaffee hinstellen
kann jeder! Überhaupt jeder! Wenn die Kunden nichts anderes wollen?
Wir könnten Ihnen ja einen ganzen Tag Pausen machen! Nur Pausen!
Alles Pausen! Das hatte ich sogar überlegt, als ich diese Tagung
geplant habe. Ich weiß nur immer nicht so genau, was wir bei
zu vielen Pausen reden sollen. Das ist keiner gewohnt. Ohne Folien
langweilen sich bestimmt alle. Da habe ich dann doch Bauchweh gehabt.
Ich weiß schon, Pausen sind optimal, aber ich wollte dann doch
auf das Bewährte zurückgreifen. Und das ist das Reden, bis
die Luft schlecht wird.“