Links im Sinnraum
Betriebliche Universalansprache zu Jahresbeginn (Daily Dueck 55)
Eine gefällige Rede soll ich halten – allerdings ist die Lage total schlecht. Die Stimmung ist so mies, dass direkte Vorwürfe nur auf Achselzucken treffen. Ich will auch gar nichts konkret gegen die Mist-stände tun, das schaffe ich allein nicht mehr weg. Ich will nur reden. Das ist meist die halbe Miete. Für das Überleben eines Unternehmens reicht Reden aus. Was aber sage ich nur? Möglichst nichts Inhalt-liches, weil ich daran gemessen werden könnte. Ich messe andere – ja, das ist meine Macht! Aber ich selbst bin zu schlau, verantwortlich zu sein.
Ich übersetze einfach alles ins Positive. Ich stelle allen Zuhörern ein Zeugnis aus, aber so, wie die Personalräte eins schreiben. Jeder Versager wird dort als der Größte seiner Art herausgestellt! Mit den tollsten Formulierungen, nichts wird versagt oder gesagt oder gesargt oder... Ich soll reden... aber was? Ich schreibe einfach eine „content free communication“ so vor mich hin, bis ich den Höhepunkt erreiche und dann gehe ich ab. Ich stelle mich als Beispiel für alle dar und betone, genau wie sie zu sein. Ich will ihnen damit sagen, dass sie besser werden können.
„Verehrte Mitarbeiter, liebe Leute,
ich möchte Ihnen zunächst für alles danken. Das wird heute so oft vergessen, dass ich es mir extra aufgeschrieben habe, damit mir das nicht passiert, weil viele von Ihnen darauf Wert legen, sagte man mir. Das ist nicht böse gemeint, aber wir Führungskräfte werden eher misstrauisch und sehr hellhörig, wenn man uns für unsere Mitarbeit dankt und sonst nichts. Gut, damit habe ich bei Ihnen meinen ersten Punkt gemacht: Danke! Tausend Dank an jeden von Ihnen, verdient oder nicht, das soll heute zum Fest einmal nicht erörtert werden. Schwamm drüber. Danke! Danke! Danke! Bitte spenden Sie sich selbst einen kräftigen Applaus! Tüchtig! Okay, das genügt. Dann soll ich noch vom Veranstalter ausrichten, dass die Notausgänge dort bei den Leuchtstreifen sind und Leute nach meiner Rede nichts zu essen bekommen, die keine Märkchen mit der Menuwahl abgegeben haben. Getränke bezahlen Sie bitte selbst. *Räusper*.
Eine neue Ära kündigt sich an. Wir haben uns viel vorgenommen. Das gereicht uns zur persönlichen Ehre! Wer sich zu wenig vornimmt, wird nichts erreichen. Das schafft jeder, wir auch! Wir haben in den letzten Wochen die Weichen auf Erfolg gestellt. Wir haben die Organisation stark gestrafft, ausgebaut und schlagkräftig gemacht, weil wir in der letzten Zeit viel unberechtigte Kritik von Analysten einstecken mussten. Wir sind jetzt aber bestens gegen den Kunden aufgestellt und schauen gestärkt und voller Zuversicht in die Zukunft. Die jetzt getroffenen Entscheidungen sind sehr weitreichend. Kein Stein wird auf dem anderen stehen bleiben. Ich darf nicht ohne Stolz bemerken, dass wir die einschneidendste organisatorische Unordnung seit Firmenbestehen in die Wege leiten. Haben Sie aber keine Angst, denn an Ihrem Arbeitsplatz ändert sich nichts. Sie werden von den Organisationsveränderungen nichts bemerken. Wir haben die Mitarbeiter davon bewusst verschont, um den Arbeitsablauf nicht zu stören. Wir mussten besonders die Gehaltsstrukturen der Führungskräfte den zukünftigen Gegebenheiten anpassen, weil wir eine motivierte Truppe brauchen, um die vielen neuen Geschäftschancen wahrnehmen zu können.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Markt ist da. Wir haben alle
Produkte für ein profitables Wachstum zusammen. Die Kunden können
uns nicht länger ignorieren. Die Chancen sind nie so groß
wie heute gewesen. Andere Unternehmen verkaufen ihre schlechten Produkte
doch auch! Und wir sind besser! Das ist unser Vorteil, den wir gnadenlos
ausnutzen werden. Die Vertriebsschulungen laufen. Jeder bekommt beste
supereinfache Erfolgsargumente. Wir möchten damit vermeiden,
dass jemand selbst ein Urteil abgibt, wovor ich hier deutlich aus
gegebenem Anlass warnen möchte. Wir müssen jetzt nur noch
unsere Energien bündeln und zusammen als Team unsere PS auf die
Straße bringen. Wer auch immer von uns in Schwierigkeiten steckt
– er soll wissen, er ist nicht allein!
Das Jahr hat gerade begonnen. Lassen Sie uns nach vorne sehen. Die
Zeichen stehen gut. Wir sind noch nicht am Ziel, aber die Richtung
stimmt. Nun müssen wir nur noch die Fahrt aufnehmen und unser
Momentum halten. Ich zähle weiterhin auf Sie. Ich bin stolz auf
Sie und weiß deshalb mit Bestimmtheit, dass ich weit mehr von
Ihnen verlangen kann. Welche Firma kann das von sich sonst behaupten?
Unsere Strategie ist festgelegt. Wir wollen effizient nach vorne wachsen.
Das hat der Vorstand ausdrücklich bekräftigt. Das Management
wird sich keinem Erfolg in den Weg stellen, das kommt wegen unserer
Reorganisation nie wieder vor! Die Führungscrew geht und steht
schlagkräftig hinter Ihnen und stärkt Sie mit jedem Tritt.
Wir müssen nur tun, was wir am besten können, dann ergibt
sich der Rest von Ihnen von ganz allein.
Wir sind also auf dem richtigen Weg. Wir wissen genau, was wir tun.
Viele Aktionen sind aufgesetzt. Task Forces entsenden Change Agents.
Bitte glauben Sie nicht, dass es uns mit unserer Reorganisation und
der Neuausrichtung aller Geschäftsfelder nicht ernst ist, nur
weil das in der Vergangenheit oft so war. Diesmal sind wir finster
zu einer Orientierung entschlossen. Wir wollen das Gewinnwachstum
genauso sehnsüchtig wie Sie selbst auch. Natürlich wissen
wir, dass das nächste Jahr nicht einfach wird. Es wird noch härter,
und es wird nie mehr Jahre geben, die nicht hart sind – so sehen
wir das vor äh vorher. Die Politik lässt uns ja im Stich.
Die Rahmenbedingungen verschlechtern sich. Der Wettbewerb hält
sich nicht an Regeln. Einige Anbieter unterbieten uns unseriös
auf Kosten der Qualität. Die Kunden fordern immer mehr von uns
und wollen uns zu Gratisleistungen zwingen. Sie wollen mehrheitlich
nur noch Präsente statt Präsentationen. Darauf werden wir
nur bedingt eingehen, weil wir viele neue Kunden brauchen. Die neue
Werbekampagne mit dem Witz des Jahres wird wie eine Bombe einschlagen.
Wir werden uns damit am Markt differenzieren. Wir sind dann unverwechselbar
bis zur Unkenntlichkeit! Das ist die Pointe! Das ganze Land wird über
uns lachen! Aber Scherz beiseite – und ohne Witz:
Unser Dreh- und Angelpunkt sind natürlich Sie, verehrte Mitarbeiter.
Wir investieren große Summen in Sie und die wollen wir wieder
reinkommen sehen! Gehen Sie an jede Grenze! Gehen Sie Risiken ein!
Was Erfolg hat, wird nicht bestraft! Bilden Sie sich am Feierabend
weiter, wenn Sie zum Arbeiten zu müde sind! Freuen Sie sich an
jedem noch so kleinen Fortschritt. Ja, wir müssen uns wieder
freuen! In unseren Köpfen muss sich etwas ändern, das fordere
ich jetzt von Ihnen allen! Die Gedanken müssen nur noch nachziehen,
was unsere Worte schon lange sagen. Freude muss uns erfüllen.
Erheben wir dazu das Glas! Wir müssen uns daran gewöhnen,
dass wir halb voll sind und nicht halb leer. Alle Augen müssen
vor Leidenschaft glasig glänzen. Ich will Funken aus Ihnen sprühen
sehen, Blitz nochmal!
Ich selbst bin auch ein Mensch, das können Sie mir wirklich glauben. Wenn ich vor Ihnen rede, gerate ich bei Ihrer Begeisterung fast in Rührung. Moment – ich trinke tüchtig etwas – so, es geht mir schon viel besser. Ich hätte nicht gedacht, dass ich auf so viel ungeteilte Zustimmung bei Ihnen treffe. Wenn ich Sie so sehe, bekomme ich selbst wieder Mut, dass mehr Prozent in der Bilanz als im Wein ist. Ja! Wir wollen gewinnen! Wir schaffen es gemeinsam! Der Erfolg wird uns überwältigen! Und ich stehe dafür ein, dass jeder von uns am Erfolg beteiligt wird, ein jeglicher auf seine Art.
Ich freue mich so sehr, einmal eine ganze halbe Stunde unter Ihnen sein zu können. Ich muss leider wieder fort, denn ich habe noch andere Versammlungen zu motivieren. Das ist Stress pur, sage ich Ihnen! Aber ich habe Ihnen heute einen Gefallen getan, den ich selbst meiner Frau Tag und Nacht versage – ich habe mein Handy ausgestellt, um mich ganz ungestört mit Ihnen vereinigen zu können. Ich möchte auf Sie anstoßen! Wir sind jetzt am Höhepunkt! Machen Sie es gut! Machen Sie es gut! Machen Sie es gut! Dann komme ich bestimmt wieder!“