Links im Sinnraum
Zeitschriften auf Papier? (Daily Dueck 50)
„Auf Papier? Ja, sicher – der Mensch will aus biologischen Gründen immer lesen wollen und nicht in die Glotze schauen! Das ist erwiesen.“ So beruhigen sich die mit Zeitschriften und Büchern befassten Unternehmen. Kongresse darüber finden heute extra zu dieser besagten Großen Rhetorischen Frage statt und bejahen sie stramm und tapfer. Ich habe bei so einem Kongress Leute erschreckt, glaube ich. Papier stirbt nämlich.
Ich bin ein so genannter Visionär, weil ich solche Fragen ja
nicht in meinem Interesse beantworten muss. Ich versuche wirklich
zu sehen, was wirklich kommt. Die Erfahrung zeigt, dass es sehr, sehr
oft genau so kommt, wie man im ersten Augenblick dachte, aber viel
später. Wir können uns mühelos eine große Veränderung
vorstellen, so wie da Vinci schon den allgemeinen Flugverkehr kommen
sah. Ikarus erkannte schon vor 3000 Jahren, dass man Hitzeschildplättchen
gegen atmosphärisches Verglühen … Viel später!
In den achtziger Jahren sagten manche, der Computer würde Arbeitsplätze
vernichten. Da lachten die meisten. Als die PCs mit großen Speicherplatten
aufkamen, machte die Idee vom papierlosen Büro die Runde, aber
es stellte sich heraus, dass die meisten Leute auch Drucker dazukauften
und viel mehr Papier denn je verbrauchten. Heute aber habe ich selbst
einen Laptop mit allem Funkzubehör und 1400 Gramm Gewicht dabei.
Ich arbeite überall – im Zug, zu Hause, im Park, im Flughafen.
1400 Gramm wiegt mein ganzes Büro! Wehe, Sie kommen mir jetzt
mit Akten! Da stöhne ich auf und bitte um ein pdf-File. Sehen
Sie? Jetzt, erst jetzt, kommt das papierlose Büro, und es lacht
niemand mehr. Es ist viel später gekommen. Warum später?
Die Infrastruktur muss sich günstig verändern – und
das dauert.
Viele Jahre wurde die Film-Kamera totgeredet – alles digital!
Aber die Leute fotografierten wie gewohnt. Die Filmhersteller und
Silberhersteller lachten. Aber auf einmal konnte man Papierbilder
von Digicams im Supermarkt bestellen, auf einmal schickten sich Teens
Bilder auf Handys herum, auf einmal hatten fast alle einen PC zum
Anschauen oder einen Dia-Show-tauglichen DVD-Recorder! Da brach der
analoge Markt in kürzester Zeit zusammen. Viel später –
als keiner mehr lachte.
So wird es mit den Zeitschriften aus Papier geschehen. Sie werden noch lange bleiben und später – viel später – ganz plötzlich an einer neuen Infrastruktur sterben, die das Neue wirklich besser aussehen lässt. Schauen Sie doch bitte einmal nicht wie gebannt auf die Papiermaschinen und die Kioske. Studieren Sie einmal bitte nicht wichtige Beratungsstudien mit Ihren eigenen Herstellermeinungen, die dort als Diagramme aufbereitet werden. Schauen Sie stattdessen, wie sich die Infrastruktur verändern wird! Und diese sieht später so aus:
Alle PCs sind im Netz – ich meine, unser Speicherplatz ist irgendwo auf einem IBM Großrechner, auf den wir über ein Internethandy zugreifen, das IMMER online ist. Wir haben einen PAPIERartigen elektronischen Faltbildschirm immer dabei, auf dem wir alles anschauen können. Da wir immer online sind, muss kein Computer angeschaltet und hochgefahren werden. Alles ist einfach da. Die Bandbreite stieg in den letzten Jahren von 64 kB pro Sekunde (ISDN) auf 16 MB pro Sekunde (DSL) – stellen Sie sich also für später zum Beispiel 256 GB vor. Alles kommt dann hochaufgelöst in Echtzeit, überall hin. Man wird Zahlungssysteme erfunden haben, die Zenti-Euro-Cents abrechnen können, wie es heute nur die Telekoms tun (1,3 Cents pro Minute für 10 Sekunden „Hallo, gut angekommen!“). Wir können Fernseher auf Internet umschalten und haben riesige Wandbildschirme im Wohnzimmer, auf denen wir auch per Kamera auf die Essgruppe der Kinder abbilden können, die gerade in Japan studieren. Der OTTO Katalog hat keine Bilder mehr, sondern Kleinstvideos mit den Produkten und die Models oder Sie selbst als Avatar können sich per Mausklick an- und ausziehen. Bei Musik in schönem Ambiente.
Sehen Sie – all das kommt ziemlich sicher, aber eben später. Es dauert, bis wir Platz für Riesenbildschirme machen – wo sollen denn die Wohnwände hin und die Ziertassen aus den Schubladen, die wir zur Hochzeit bekamen? Langsam aber wird die neue Infrastruktur etwas zulassen, was großartiger ist als die gedruckte Zeitschrift. Zuerst wird die Werbung Großartigeres produzieren und die Papierzeitschriften links liegen lassen wollen, wenn die nicht mitziehen. Dann müssen die Zeitschriften aber doch immer mindestens vom Inhalt her besser sein als die Werbung, oder?
Die Inhalte werden sich verändern, wenn die Infrastruktur andere Inhalte zulässt. Das, was ein Artikel sein wird, wird sich ändern, das haben wir heute bei der Vorführung der Live-Pages schon ahnen kön-nen. Es wird Zwischenstufen geben! Ich könnte mir vorstellen, dass zu jedem herkömmlichen Artikel RFIDs auf das Papier gedruckt werden können, die interessante Bildinfos auf ein daran schnupperndes Handy schicken können. Hinter einem Artikel über Bayern München ist also ein RFID gedruckt, das kleine Handyfilmchen der Torszenen enthält, die man sich zum Sammeln aufheben kann. Eine solche RFID-Lösung kann das Papier noch eine Weile erhalten und zu einem großen Geschäft für Sie führen. Es wäre denkbar, dass das RFID-Signal einen Dezi-Cent auf die Telefonrechnung setzt, nicht wahr?
Auf irgend so eine Art wird nach dem papierlosen Büro auch die papierlose Zeitschrift und die papierlose Gesellschaft folgen, glauben Sie mir. Leider beruhige ich Sie ja die ganze Zeit mit der Feststellung, dass alles viel später kommt. Da lehnen Sie sich vielleicht zurück. Aber ich sagte auch die ganze Zeit: dann kommt „es“ meist ziemlich plötzlich. Und gerade dann werden die existierenden Papiermaschinen auch wieder nicht abgeschrieben sein. Sollte der Wandel aber allmählich kommen – so wie das derzeitige Aufrollen des Buchhandels durch Amazon, was sich schon zehn Jahre hinzieht – ja dann stände es fast schlimmer um Sie. Das kleine Wachstum des Marktes würde andauernd vom Neuen weggesogen und das alte Papierne muss lange Zeit in stagnierenden Märkten ächzen.
Dann erfinden Sie doch alle lieber an der neuen Zeit?! Nehmen Sie lieber die Zukunft selbst in die Hand, anstatt das offene Bekenntnis zur Papierlosigkeit als Mutlosigkeit zu brandmarken oder als Verrat oder Nestbeschmutzung zu verachten. Bestimmen Sie die Medien der Zukunft! Machen Sie Ihren Weg frei. Papier ist geduldig, aber nicht unsterblich.
Da fällt mir ein, dass neulich jemand sagte: „Lokale Tageszeitungen
sind wegen der Todesanzeigen – damit man weiß, wer gestorben
ist.“