Virtuelle Streiks in Second Life? (Daily Dueck 48)

Irgendwer kam letzte Woche mit der Idee, im Second Life Raum zu streiken. „Wir können es nicht wagen, gegen die Kürzungspläne unserer Firma offen aufzutreten. Wir streiken jetzt virtuell!“ Mein erster Gedanke war: „Das werden sie wahrscheinlich tun, es wird eine soziale Revolution.“ Mein zweiter natürlich: „Schande über uns, wenn es so kommt.“

Waren Sie schon einmal in Second Life? Sie laufen dort in einer virtuellen Welt herum, wie bei einem Online-Spiel, nur eben in einer von Ihnen gewählten Gestalt („Avatar“ – ursprünglich menschliche oder tierische Erscheinungsform eines Gottes in dieser Welt). In Second Life können Sie Grundstücke erwerben, Inseln, Motorräder oder Waffen. Viele Firmen haben schon Repräsentanzen in Second Life. Bei diesen Geschäftsstellen können Sie sich als Avatar bei diesen Firmen schon bewerben oder Vorträge von Avataren anhören oder anschauen. Alles ist auf Hochglanz programmiert und die Firmenvertreteravatare haben natürlich schwarze Anzüge an. Ich könnte da wohl kaum hingehen, weil ich für mich selbst für den Anfang einen kostenlosen Avatar mit kurzen Hosen und T-Shirt genommen habe, um dort mal unverbindlich rumzulaufen.

Nun könnten doch die Mitarbeiter eines Unternehmens in großen Massen in Avataren mit Firmen-Logo-T-Shirt in Second Life vor ihrer virtuellen Geschäftsrepräsentanz auftauchen und gegen das eigene „böse“ Management demonstrieren? Mitarbeiteravatare könnten Mahnwachen rund um die Uhr hinstellen und Journalistenavatare informieren? Alles anonym! Das arme Unternehmen kann dann wohl wenigstens virtuell schließen, oder? Es geht doch nicht gut, wenn dort Massen von seltsamen Avataren in Tier-, Hexen- oder Eingeborenen-Outfit wie bei einer Love-Parade Unruhe stiften?

Das war jedenfalls die Idee, die ich heraushörte, als jemand sagte: „Wir können es nicht wagen, direkt mit dem Management zu sprechen.“

Mein erster Gedanke war technisch: Das geht nicht so gut, weil es ja sicher sein muss, dass es echte Angestellte der Firma sind. Man könnte ja auch zur Konkurrenzgeschäftsstelle gehen und die Wettbewerbsfirma in Second Life fertig machen. Hmmh, wieder so eine Idee! Aber der Bildschirm ruckelt noch zu stark bei schlechtem DSL, wenn zu viele Leute auf einmal in Second Life auf einer Stelle rumtrampeln. Mehr als 100 gehen wohl heute nicht. Man müsste also immer 100 Mitarbeiter so abordnen, dass sie umschichtig in der Firma bei der Arbeit Pause machen und darin im Firmencomputer zu Second Life gehen und dort demonstrieren. Kommen dann wenigstens virtuelle Journalisten? Kann man dort schon filmen und etwas in den Nachrichtensendungen zeigen? Gibt es bald eigene Sendungen für Nachrichten aus Second Life? Wir kämpfen es in Second Life aus, anstatt Demos im Regen auszuhalten und von der Staatssicherheit gefilmt zu werden.

Der zweite Gedanke: Die Formulierung „Wir können es nicht wagen…“ heißt ja einfach: „Ich selbst bin feig.“ Heute will keiner mehr etwas riskieren. Warum nicht, liebe Leute? Antwort: Es ist heute wirklich zu riskant, als Einzelner gegen die Macht zu sprechen. Im Grunde ist dieses Kneifen nicht feige. Das Problem ist: Wir sind allein. Wir sind nicht solidarisch. Das Risiko des Geköpftwerdens trifft den ersten, der wagt. Wir haben im Aufschwung egoistisch begonnen, als Einzelne gewinnen zu wollen. Nun aber, wenn es schwierig wird, sehen wir uns in Auseinandersetzungen ohnmächtig vereinzelt. Müssen wir uns selbst überdenken? Wieder in Gemeinschaften ordnen? Mindestens sollten wir uns mit Einzelnen solidarisieren, wenn die für unsere Interessen eintreten, anstatt ihre psychische Tötung mit anzusehen und zu beklagen.
Ein Second Life Streik ist solch eine Organisation eines Haufens lauter Einzelner. Das ist aber keine Gemeinschaftsdemonstration, sondern eine Aktion eines Zweckkonsortiums, das sich kurz für eine brutale Interessendurchsetzung spontan zusammenfindet und danach sofort auseinander geht.

Ach ja, ist ein möglicher Streik in Second Life schon wieder so ein Symptom für unsere temporäre Ethik? „Gegen die eigene Firma zu kämpfen“ statt sich mit ihr zu einigen?

Ich halte oft Vorträge über solche Themen. Fast immer gibt es eine technische Seite oder eine, die zeigt, „was technisch faktisch kommt“ (Prognose) und eben die andere ethische Seite, „was kommen sollte“ (Zukunftsappell und Predigt, was Gott will). Wir wissen ja meist, was kommen sollte, aber wir treiben gleichzeitig in etwas Reales hinein. Lassen Sie uns die beiden Seiten ein bisschen zusammenhalten.

Gunter Dueck

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