Sag lieber nix! (Daily Dueck 46)

„Der Überbringer der schlechten Nachricht wird getötet. Deshalb sag ich nichts. Wer kritisiert, kommt um. Wer etwas von sich preisgibt, wird ausgenutzt. Wer hilft, wird hineingezogen. Ich bleibe stumm, alle müssen ihr Unglück selbst erkennen, ich warne niemanden.“

In den letzten Beiträgen habe ich Leute auf den Präsentierteller gestellt, die unerbeten und ungeniert zum Teil unbrauchbar generischen oder banalen Rat über gleich darauf verärgerte, nach Luft ringende Mitmenschen verregnen. Diese Richter, Staatsanwälte und Polizisten, diese energischen Mütter oder Manager sind getrieben von einer Art Sucht, Missstände sofort anzusprechen und zu beseitigen. Dazu bedienen sie sich – wie sie selbst sagen – einer direkten und ehrlichen Ausdrucksweise, die bei den anderen als pure Grobheit ankommt – was die „Ehrlichen“ nie verstehen können. „Was tut es schon, selbst wenn es etwas grob war! Der Misstand muss weg! Ist euch euer Hasenherz wichtiger als die ganze Welt?“

Ja, für ganz viele ist eine seelische Katastrophe sehr viel wirklicher als eine reale. Die Gefühle dürfen unter gar keinen Umständen verletzt werden, weil nur dort die wahren Wunden geschlagen werden! Wenn man sich „in jemanden einmischt“, wird der aber ganz höchstwahrscheinlich in den Gefühlen verletzt! Deshalb wird er unter den Wunden denjenigen anklagen oder den prügeln, der ihm diese Wunden schlug – den Überbringer der schlechten Nachricht oder den Einmischer. Wer also Rat gibt, schlägt meist Wunden im Herzen des Anderen. Daraufhin reagiert der Verwundete mit Trauer, offener Wut, Aggression, Rückzug, mit dem Ende der Beziehung. (Für „Sachmenschen“: Was tun Sie, wenn Sie jemand prügelt oder mit dem Messer sticht? Das finden Sie wahrscheinlich nicht gut! „Seelenmenschen“ finden es aber genau so schlimm, im Herzen gestochen zu werden. Das verstehen die „Sachmenschen“ nicht, weil sie es nicht sehen. Sie können es ja nicht sehen, nur mitfühlen. Aber das Mitfühlen gelingt ihnen auch nicht.)

„Ich lass mir das von diesem Hund nicht sagen! Ich soll so sein, wie er sagt? ER! ER! Weit schlimmer ist ER! Rücksichtslose macht man zu Chefs!“ – „Sie betrügt mich und sagt jetzt, meine Krawatte ist zu schrill! Was denkt sie sich, mich zusätzlich so zu kränken?“ – „Sie haben mit zu fünft vor meinem Schreibtisch gesagt, ich solle Deo oder Waschsalon wählen. Ich bin so empört! Stinke ich etwa? Ich werde gemobbt!“ – „Wenn ihr Kinder irgendwas vom Cognac in der Nachbarschaft verratet, bring ich euch um! Niemand wird über uns schlecht reden.“ – „Ich mag den Chef. Er grüßt mich, obwohl ich nichts bin. Ich rechne es ihm hoch an, dass er mir das niemals zeigt.“

Mir schrieb ein Leser, dass es zwar zu viele Unsinnsratgeber gäbe, andererseits sei es aber sehr selten, dass man ein wirklich wertvolles Feedback bekomme. Alle würden den Mund halten. Wir verschweigen, dass der Chef schlechte Reden hält oder der Kollege Mundgeruch hat. Wir besprechen alles hinter allen Rücken am Kaffeeautomaten. Wir haben Angst, Rat zu geben, der in der Regel so stark verletzt, dass Prügel zurückkommen. „Sie ist nach seiner Kritik am Boss versetzt worden.“ Wir übersehen in aller Öffentlichkeit begangene Verbrechen, lassen Ladendiebe gewähren und sogar die Lehrer die eigenen Kinder quälen. „Wenn man etwas dazu sagt, rächen sie sich im Zeugnis.“

Wir krümmen uns also auf der einen Seite unter Unmenschen, die uns mit Rat aggressiv überschütten und unsere Herzen verwunden, ohne dass sie das überhaupt sähen. Auf der anderen Seite sind da die Verletzungserfahrenen und zart Besaiteten, die allem Unglück lieber zusehen als eine neue Verletzung zu riskieren. „Ich verbiete, dass du dich einmischst! Ich weiß, sein Sohn drüben schließt sich tagelang mit Schnaps ein. Aber es ist Aufgabe seiner Eltern, das zu sehen, nicht unsere.“ – Das hörte ich selbst und wenig später vom selben Menschen: „Vor den ICE? Wie furchtbar! Dachtest du das?“ Ich fragte kurz, ob Einmischen geholfen hätte und wurde vernichtet.

„Sieh nichts, hör nichts, sag nichts!“ Das weiß jeder der drei Affen. „Tu nichts!“, sagt der vierte. Das ist sicherer.

Was sagt uns das?

Eine Kritik muss „konstruktiv“ sein und helfen, in der Sache UND im Herzen. UND! UND!
Das weiß jeder. Eine Sachnachricht kann eine Beleidigung sein! Was soll das dann?

Ich kenne aber nicht so viele, die sich vor aller Kritik überlegen, was in den adressierten Herzen passiert – nicht viel die einen richtigen Zeitpunkt abpassen, die den Ton taktvoll wählen oder etwas wie beiläufig verletzungsfrei unterbringen. Meist dominiert der Hammer. „Kritik muss verletzen, das ist doch klar! Sonst wirkt sie nicht, wenn sie nicht verletzt!“ Das ist die falsche Rechtfertigung der Sache, die das Herz um der Sache willen verletzen will.

Die anderen sehen den Verletzungsaspekt so schlimm, dass sie eine verkorkste Sache lieber akzeptieren als eine psychische Verletzung. „Ich bin lieber still, denn eine Sachnachricht wäre eine Beleidigung. Wenn das so ist, darf man nichts sagen.“

Die, die Sache verehren und das Herz nur als Mittel zum Sachzweck sehen, sind meist die, die in der Sache gewinnen. Ihr Herz? Zweitrangig.
Die, die das Herz verehren und die Sache als Mittel zum heilen Herzen sehen, werden in der Sache verlieren und vielleicht im eigenen Herzen standhalten oder gar gewinnen. Die Sache? Zweitrangig.

Jeder, wie er es verschieden anstrebt.

Beides ist falsch.

UND! UND!

Gunter Dueck

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