Links im Sinnraum
Die Exekutionssucht (Daily Dueck 43)
„Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf's von dir. Es ist dir besser, dass eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.“ Das klingt zu hart, nicht wahr? Heute wird dieses Wort aus dem Matthäus-Evangelium auf Unternehmen angewendet, die sich emsig alle Arme und Beine ausreißen um in den Himmel zu kommen. Problem: „Mein Mann hat eine Bronchitis!“ – Lösung: „Lass dich scheiden!“
Ach ja, die Leute wissen immer so genau, was das Richtige ist. Übergewicht? „Iss weniger.“ Schlechte Noten? „Lerne!“ Stresskrank? „Atemübungen mit Glücksfakelächeln, danach JS-Bachblütentee.“ Hässlich? „Erfinde dich in Second Life neu.“
Ein kleines Beispiel aus einem IBM-Management-Lehrgang hat mich vor
vielen Jahren schwer beschäftigt. Wir sollten als Jungmanager
einen Fall lösen.
Problem: Eine der beiden Bereichssekretärinnen schießt
empört entrüstet heran. „Chef, diese schrille Ziege
verdüstert mein Leben. Ich schmeiße jetzt alles hin. Ich
will nicht mehr mit ihr in einem Raum arbeiten. Ich will ein eigenes
Zimmer! Ich hasse sie, sie hat sich über … jedenfalls mokiert
und das lässt mich platzen. Sie mobbt mich.“
Wie reagiert ein Manager?
Modell Staatsanwalt: „Sie klagen inhaltlich eine andere Mitarbeiterin an. Lassen Sie uns die objektiven Tatsachen ermitteln. Ich will sehen, wie ich dann gegen sie vorgehen kann. Mir sind schon ähnliche Klagen über sie vorgetragen worden, die aber bisher nicht konkret genug waren.“
Modell Richter: „Es ist schön, dass Sie mit Ihren Problemen zu mir kommen und sie sie mir anvertrauen. Ich werde nun die Beklagte zu einem Gespräch bei mir einladen und auch sie hören, damit ich einen Überblick über die abweichenden Standpunkte erhalte. Ich werde mich dann um ein weises Urteil für alle Beteiligen bemühen.“
Modell Macher: „Das trifft sich gut, es ist gerade ein Arbeitsplatz im Zimmer des Controllers frei geworden. Packen Sie ihre Sachen und ziehen Sie um. Erledigt!“ Oder: „Welche Lösung haben Sie sich konkret vorgestellt? Machen Sie einen umsetzbaren Vorschlag, und ich stimme Ihnen sofort zu. Wir lösen das Problem jetzt sofort.“
So re(a)gieren Manager! Etwa 85 Prozent aller Vorgesetzten wählen eine dieser Varianten. Sie untersuchen, richten, handeln. Sie „exekutieren“ das Problem.
Nach einer langen Diskussion, welche dieser drei Lösungen die beste wäre, fragte uns der Coach dies: „Was meinen Sie denn, was die aufgeregte Sekretärin von ihnen faktisch erwartet?“
Schweigen.
Wir hatten nicht darüber nachgedacht.
Schweigen.
Wir wussten es auch nicht so genau.
Und dann erfuhren wir die niederschmetternde Wahrheit. Und sie lautet:
85 Prozent aller Sekretärinnen erwarten vom Manager so etwas wie ein Gefühl authentischer Anteilnahme an ihrem Jammer. Dazu zum Beispiel: „Ach je, ich verstehe, ich habe ja auch mit ihr zu tun. Ach je. … Wissen Sie was? Wir gehen in die Cafeteria im anderen Haus und trinken Extra-Macchiato. Mir ist gerade so danach. Dabei weinen wir uns ein bisschen aus.“
Viele von uns haben das damals zu subjektiv gefunden, auch überhaupt nicht gerecht oder objektiv gegenüber der anderen Sekretärin. Wir haben uns geschüttelt. Der Coach warf uns vor: „Sie exekutieren nicht das Problem, sondern den, der es hat.“
Und dann sitze ich manchmal irgendwo, habe vor Stress verzogene Schultern, schwache Versagensangst, am nächsten Tag zu scheitern. Jemand kommt vorbei und schaut besorgt. Ich flüstere: „Ich habe einfach viel zu viel um die Ohren, weißt du?“ Und dafür gibt es Todesstrafe, es fällt die Guillotine. Ich werde hingerichtet. „Arbeite nicht so viel. Nimm dir nicht alles zu Herzen. Du musst nicht alles schaffen. Du musst nicht perfekt sein. Mach Urlaub. Treib Sport. Trink Eigenurin, der ist gesund.“
Kann mir nicht EINER über das Haar streichen? Mich ein bisschen bedauern? Fühlen? „Ach, du armes Schwein, komm, wir trinken Extra-Macchiato.“
Gebt keinen Rat, wo nur Gefühl verlangt wird!
Schlagt keine Lösung vor, wo kein Wille zur Lösung ist!
Manager, Eltern, Lehrer – sie kommen zu Euch und weinen um
Menschlichkeit!
Und Ihr bietet ihnen immer nur an, sie nach Eurem Bilde umzuformen.
Diese Aussicht begeistert sie nicht.
Warum eigentlich nicht?
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PS: Wenn Sie jetzt ratlos sind und sich fragen, wie denn die Probleme
wirklich gelöst werden, dann sind Sie eventuell exekutionssüchtig.
Oder Sie erinnern sich nicht mehr an das letzte DD42. Es trägt
den Titel: „Wer kein Vertrauen hat, arbeitet nicht gut.“
Haben Sie das vergessen? Ganz und gar? Der Richter hat nicht das Vertrauen
der gewöhnlich zwei Halbschuldigen. Der Staatsanwalt hat kein
Vertrauen beim Angeklagten. Der Macher will nur das Problem vom Tisch
haben, er legt es gar nicht auf Vertrauen an. Deshalb sind alle drei
normalen Modellverhaltensweisen in völliger Ahnungslosigkeit
um die Problemstellung gefangen. Weil sie das sind, müssen sie
erst „untersuchen“. Warum versuchen Sie es immer ohne
Vertrauen?
Und weiter: Angenommen, Sie hätten das volle Vertrauen. Käme man zu Ihnen, als wären Sie Staatsanwalt, Richter oder Macher? Nein. Noch einmal angenommen, Sie hätten volles Vertrauen. Würden Sie sich so inquisitorisch und ungeduldig benehmen wollen? Sie sind oft ungeduldig, weil Sie fürchten, es brennt etwas an. Wenn Sie als Lehrer, Eltern oder Manager das Gefühl haben, jetzt im Moment gehe etwas schwer schief und sie müssten schnell handeln – ja, dann wissen Sie nichts und haben kein Vertrauen der anderen.
Und weiter: Warum, glauben Sie, erfahren Sie alle Probleme immer so spät, erst, wenn es wirklich angebrannt ist? Weil Ihre Verhaltensweisen nur in diesem Augenblick ertragen werden können – wenn das Problem stärker ist als die Furcht vor Ihnen. („Ich bin im vierten Monat. Es ist von … oh Gott.“)
PS: Fortsetzung folgt.