Life Alienation Syndrome (Daily Dueck 38)

„Ich arbeite gerne am Sonntag. Da habe ich Ruhe. Leider mobbt mich meine Familie. Sie sagen, es gäbe noch ein Leben neben der Arbeit. Das mag sein. Aber ich finde nicht, dass sie mir die Arbeit versauern dürfen, die schon schwer genug ist. Das Gemecker meiner Familie am Wochenende führt tendenziell zu einer schlechteren Arbeitsleistung und gefährdet unsere Existenz.“

Kennen Sie das Stockholm-Syndrom? Die Bezeichnung geht auf einen in den Medien ausgeschlachteten Entführungsfall in Schweden zurück (August 1973). Die Geiseln fürchteten sich entsetzlich vor der Polizei, weil diese gewaltsam zu stürmen drohte. Sie begannen, mit ihren Entführern zu kooperieren. Die Geiseln sahen die Verbrecher positiver als die Retter, die draußen ihretwegen alles in Bewegung setzten. Nach der Entführung besuchten die ehemaligen Geiseln damals die Verbrecher sogar im Gefängnis und baten für sie um Gnade.

Kennen Sie das Parental Alienation Syndrome? Die Eltern eines Kindes lassen sich scheiden. Das Kind lebt bei dem einen Elternteil und ist nur ab und zu an einem Wochenende mit dem anderen Elternteil zusammen. Das Kind hat beide Elternteile sehr, sehr lieb. Nach einschlägigen Statistiken aber haben nur noch wenige Kinder länger als ein Jahr mit dem entfernten Elternteil Kontakt. Sie entfremden sich. Zuerst spielen viele Kinder eine Doppelrolle. Sie freuen sich heimlich auf das Wochenende mit dem „Vater“ (der ist es meistens) und verbringen ein wundervolles Wochenende. Dann kehren sie äußerlich gelangweilt nach Hause zurück. „Kind, war es schön?“ – „Ach ja, es muss sein, er ist ja mein Vater.“ – „Was muss sein?“ – „Er wollte ins Kino, aber nicht in den Film, den ich eigentlich wollte.“ – „Willst du denn überhaupt noch mit ihm zusammen sein?“ – „Ach, lass es noch eine Zeit lang. Ab und zu ist er ja auch nett. Er war ja auch dein Mann.“ – „Erinnere mich bitte nicht daran!“ Die meisten Kinder spielen diese Doppelrolle einige Monate lang und sind dann mehr und mehr mental überfordert. Dann entfremden sie sich dem Außen und nehmen langsam Abschied. Wenn Elternteile diese Entfremdung aktiv einleiten und betreiben, machen sie sich eines Psycho-Verbrechens schuldig. In Frankreich wird das absichtliche Entfremden wie Kindesmissbrauch bestraft. In Deutschland ist es vielleicht normal? Oder geduldet?

Diese Syndrome haben dies gemeinsam: Da ist etwas draußen, was wunderschön ist und geliebt wird. Aber es steht in Konflikt zu dem, was die augenblickliche Situation dauerhaft beherrscht. Die Geiseln haben Angst, dass sie bei ihrer Rettung Schaden nehmen. Die Kinder haben Angst, den Halt beim wichtigen Elternteil zu verlieren. Sie verleugnen die Außenwelt, um mit der Welt klarzukommen, in die sie hineingeraten sind. Sie lieben den Entführer oder sie hassen das Außenelternteil. Sie identifizieren sich mit der kleinen Welt um sie herum und verleugnen die da draußen.

Da dachte ich, ich beschere dieser Welt noch ein Syndrom: Das Life Alienation Syndrome. Menschen haben Angst vor der Arbeitslosigkeit. Sie schuften aus Angst vor dem Verlust. Sie schenken den Arbeitgebern unendlich viele Überstunden. Da draußen ist das geliebte Leben. Sie verbringen mit dem Leben immer mal wieder ein schönes Wochenende. Sie erzählen dem Chef nichts davon und verbergen am Arbeitsplatz das Private. Wenn sie heimgehen, laden sie sich ostentativ einen Haufen Arbeit auf und nehmen sie demonstrativ mit. „Chef, das kann ich noch am Wochenende schaffen.“ Und der Chef gibt alle paar Monate einmal ein gutes Wort. Das baut auf! Dafür lohnt sich alle Anstrengung! Irgendwie lieben sie den Chef, der ja zwischen allen notwendigen Härten wieder ein gutes Wort gab. Er sagte, Mitarbeiter seien sein wertvollstes Gut! Dann sind sie so etwas wie sein Besitz, um den er sich ja wohl kümmern wird, oder? Sie identifizieren sich mit dem Chef und vergessen das normale Leben.

Dieser Vorgang unter Erwachsenen ist wirklich normal. Auch das absichtliche Entfremden der Mitglieder eines Systems durch ein System ist keine Straftat. Warum auch? Wir sind alle erwachsene Menschen und wir haben die volle Freiheit zum Leben und zur Freude. Wenn wir uns dem Leben entfremden und ganz mit der Arbeit identifizieren, so ist es unsere ureigene Entscheidung.

Ist sie das? Ja? Gefallen uns diese Gedanken?
Wenn wir uns eingestehen würden, die Arbeit besitze uns, so wäre dieser maximale Kontrollverlust von uns mental nicht zu ertragen. Es ist besser, wir erklären die eigene Aufopferung als freie Entscheidung eines frei bestimmten Willens zur Leistung und zum Erfolg.

Liebe Leute: Wir sind wirklich frei! Denken Sie doch einmal – jetzt – ein bisschen – an Ihr Leben? An die denglische Work-Life-Balance?

Das ist eine bitterernste Kolumne – das will ich noch einmal sagen! Sie hat etwas mit dem Springen der Flöhe zu tun (DD36), die sich mit der Glasplatte identifizieren: „Es ist gut, dass oben eine Platte liegt. Sonst würde jeder frei herumspringen, wie er will und wir wären alle unglücklich verstreut anstatt glücklich gefangen.“ Sie hat etwas mit der Idee zu tun (DD37), die von uns verleugnet wird, weil das System sie ablehnt. „So gut war sie auch nicht. Ich als Einzelner kann schließlich nicht verlangen, dass alle tun, was mir so einfällt. Schade.“

Es gibt viele Entfremdungen, ungefähr so viele, wie es Vorstellungsräume gibt, auf deren Liebe die Macht eifersüchtig reagiert. Früher gab es sogar mal ein Arbeitsentfremdungssyndrom! („Seit sie den neuen Lover hat, ist sie bei der Arbeit ganz zerstreut!“) Heute aber herrschen sie:

• Meaning Alienation Syndrome
• Innovation Alienation Syndrome
• Kunden-Entfremdungssyndrom
• Mitarbeiter-Entfremdungssyndrom
• Basic Research Alienation Syndrome
• Self Alienation-Syndrome

Entfremdung erlebt, wer nichts liebt, was die Macht nicht mag.

Zählen Sie für sich einmal durch. Wer sich mit seinem schweren Los identifiziert, macht sich auf billigem Weg vom ihm frei. Wahre Freiheit ist aber, alles das lieben zu können, was liebenswert ist. Arbeit UND Leben. Mutter UND Vater. Firma UND Familie. Profit UND Kunde. Altes UND Neues.

Lieben Sie das Heute UND das Morgen. Weichen Sie nicht auf das Gestern aus. Wenn Sie geschieden sind und ein Kind bei sich haben, lieben Sie Ihren verlassenen Partner um des Kindes willen. Wenn Sie Manager sind, lieben Sie das Privatleben Ihrer Mitarbeiter. Die Wurzel des Übels ist immer Eifersucht eines Teils auf das Ganze.

Gunter Dueck

© 2005 Gunter Dueck l design: nukke.de (ad+bvp)