Elite verpflichtet – sie muss unten sein (September 2009)

Wer das Privileg genießt, in unserem Staate wirklich gut gebildet, ausgebildet und großartig erzogen zu werden, der hat die Pflicht, sich wieder unter die zu gesellen, die auf nicht so günstige Lebensumstände trafen, und ihnen zu helfen und sie zum Wohle aller zu führen. So lehrte es uns Platon in Der Staat. Heute, am 27. September 2009, gehen wir eine neue Regierung wählen. Mir ist etwas bange.

In seinem Spät- und Hauptwerk gibt uns Platon sein berühmtes Höhlengleichnis mit auf den Weg unseres Lebens: Gefangene sind in einer Höhle streng gerade so angekettet, dass sie stets ins Höhleninnere schauen müssen. Sie können nie in Richtung des Höhleneingangs schauen, woher noch schwaches Licht zu sehen ist. Infolge des trüben Dunkels sehen sie daher nur undeutliche Schatten der Dinge, die sich hinter ihnen abspielen (Im übertragenen philosophischen Sinne: „Sie wissen fast nichts und sehen statt der Dinge nur deren Schatten.“). Eines Tages gelangt einer der Gefangenen ans Licht (im übertragenen Sinne gelangt er „zu der Erkenntnis des Guten und der Wahrheit“), ist vom harten Licht grell geblendet…etc. Später kehrt er wieder in die Höhle zurück und berichtet vom Licht und dem wahren Anblick der Dinge. Aber die immer noch Angeketteten glauben ihm nicht.
Die meisten jedoch, die ans Licht gelangen und sich mühsam daran gewöhnen, kehren nie mehr in die Höhle zurück, in der es – wie sie jetzt wissen – grausig dunkel zugeht und wo schieres Unwissen über das Gute und die Wahrheit herrscht.

Die, die das Licht sehen, sind bei Platon die Wissenden, die Philosophen und Wissenschaftler. Diese müssten eigentlich regieren, sagt er und weiß, dass diese nicht in die Finsternis zurück wollen werden, weil sie, so Platon, „gutwillig gar keine praktische Tätigkeit werden betreiben wollen, in der Meinung, dass sie noch immer fern der Welt auf den Inseln der Seligen leben und also abwesend sind“. Und weiter: „Und also […] liegt ob, die trefflichsten Naturen unter unseren Bewohner zu nötigen, dass sie zu jenem Wissen zu gelangen suchen, dass wir […] als das höchste bezeichneten, nämlich das Gute zu schauen und den Aufstieg zu jener Höhe anzutreten; aber wenn die dort oben zur Genüge geschaut haben, darf man ihnen nicht erlauben, was ihnen jetzt erlaubt wird, [nämlich] dort zu bleiben und nicht zurückkehren zu wollen zu jenen Gefangenen, noch Anteil zu nehmen an ihren Mühseligkeiten…“

Platon fordert, dass Menschen im Staat, die eine privilegierte Erziehung bekamen, billigerweise mit dem erworbenen Wissen und ihren Fähigkeiten den anderen helfen. Platon schlägt einen Appell an die „Philosophen“ oder privilegierten Wissenden vor: „Euch […] haben wir zu eurem und des übrigen Staates Besten wie in den Bienenstöcken die Weisel und Könige erzogen und besser und vollständiger als die übrigen ausgebildet, so dass ihr tüchtiger seid, an beidem teilzunehmen. Ihr müsst also wieder herabsteigen, jeder in seine Ordnung, zu der Wohnung der übrigen und euch mit ihnen gewöhnen, das Dunkle zu schauen. Nun, sobald ihr wieder daran gewöhnt seid, werdet ihr tausendmal besser als die dort unten sehen und jedes Schattenbild als das erkennen, was es ist und wovon es ein Abbild ist, weil ihr das wahre Wesen des Schönen, Gerechten und Guten geschaut habt. Und so wird unsere, von euch geführte Staatsregierung eine solche der wachenden Menschen sein und nicht von träumenden, wie es jetzt in den meisten Staaten der Fall ist, deren Leiter Schattengefechte miteinander ausfechten und bei ihrer Verwaltung Parteikämpfe um die Herrschaft führen, als ob diese ein gar großes Gut wäre. In Wahrheit aber steht es so: der Staat, in welchem die zur Regierung Berufenen am wenigsten Lust ha-ben zu regieren, wird notwendig am besten und ruhigsten…“

Sic.
Geht unsere Elite wieder nach unten und schaut nach dem Guten und Rechten? Oder bleibt sie untätig in Elfenbeintürmen der Intellektualität – so sehr, dass wir gar keine Intellektuellen mehr in der Öffentlichkeit sehen? Da tummeln sich fast ausschließlich Stars und Top-Verdiener, die ihren Elitestatus nicht auf das Vortreffliche, Gerechte und Gute stützen, sondern auf ihre Höchstleistungen, ihren Kontostand und eigene anoperierte Schönheit. Und die fassen Platons Forderung nach dem helfenden Abstieg zu den normalen Menschen als „Verschenken von Geld“ auf, wo doch beim Helfen nie Geld gemeint ist, sondern das Vortreffliche, Gerechte und Gute. In diesem Sinne aber sind die „modernen Eliten“ noch gar nicht wirklich aus der Höhle hinausgekommen, oder?
Es gibt Wahlkampf-Slogans mit absolutem Elite-Touch – mitten in der jetzigen Bereicherungskrise – dass sich „Leistung wieder lohnen müsse“. Hat sich Leistung denn nicht vor der Krise schwer gelohnt? Ist das so gemeint, dass die Eliten immer weiter hochsteigen und nie mehr zu den übrigen Menschen gehören wollen? Ist das die moderne Auffassung von Elite? „Wo Licht ist, ist auch immer Schatten – aber das Licht bin immer ich.“ So? Ist Elite dann prätentiöse Arroganz? Oder dominanter Narzissmus?

Eigentum verpflichtet. Elite verpflichtet. Bildung verpflichtet. Adel verpflichtet, Stärke verpflichtet. Wer je das Privileg hatte, oben zu sein, hat damit eine Pflicht auf sich geladen. Elite ist nicht oben sein, sondern unten helfen und führen.

So. Jetzt gehe ich, das Vortreffliche, Schöne, Gerechte und Gute zu wählen.

PS: Für treue Leser: DD 99 ist in vieler Hinsicht die tiefer gelegte Fassung von DD11 Declaration of Lights. Da ist mehr Licht, hier mehr Dunkel.

Gunter Dueck

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