Strukturloses Träumen der Innovatoren (Daily Dueck 97), August 2009)

Die meisten guten Ideen fallen schon an der nächsten Straßenecke erschreckt zusammen und sinken dahin. Die meisten Ideen brauchen ein weiter als gedachtes Umfeld, um zu gedeihen. Die Erfinder sind in der Mehrzahl blind dafür und denken sich, die Umgebung entstehe von allein.

Amazon musste lange warten, bis die Leute überhaupt Internet hatten und dann der ganzen Sache mit dem Kaufen im Internet vertrauten. Second Life ist nicht wirklich lustig, wenn man keine superschnelle Internetverbindung hat. Digitalkameras sind für die meisten Nutzer zuerst unsinnig – solange sie keine Bilder per Mail verschicken und auch keine Papierabzüge davon im Supermarkt bestellen können. Wer will sich einen extra Drucker dafür kaufen? Elektroautos helfen nichts, weil es keine Ladestationen gibt. Alarmsensoren & Mobiltelefon für Nach-OP-Patienten helfen nicht und lassen ihn doch sterben, wenn das SOS im Funkloch ausgestrahlt wird. Die Idee „Nur 25 Prozent Steuer einheitlich auf alles“ ist angesichts der Interessen und der Wahlkampftaktiken als Idee sogar richtig schädlich für den, der sie hat. Genauso wird der SPD gerade das Deutschland Programm 2020 genüsslich zerschlagen, weil es zu viele „ungeklärte Punkte“ gibt, also keine Mehrheiten, kein Geld, keinerlei Lust der Wirtschaft oder Wissenschaft zum „Mitziehen“.

Hey, Schiffe ohne Häfen sind nichts! Flugzeuge nichts ohne Landebahnen und Bildtelefone nichts, wenn nicht mindestens zwei eins haben.

Das ist Ihnen klar, aber denken Sie bei Ihren Ideen darüber nach, was Sie an Strukturen und Infrastrukturen brauchen, damit Ihre Idee verwirklicht werden kann? Dann bleibt sie nämlich nur ein Traum und Sie sind ein strukturloser Träumer. Ich komme mir im Alltag wie der Henker vom Dienst vor, der alle Ideen umbringt. Viele Interne und Externe rufen mich an. „Ich habe eine Idee.“

Neuerdings ist überall 2.0 modern. „Ich habe eine Idee. Wir setzen alle zusammen gemeinsam das Wissen der Firma ins Netz.“ – „Aber da macht keiner mit!“ – „Alle müssen doch einsehen, dass es langfristig gut für alle ist!“ – „Aber sie haben jetzt keine Zeit!“ – „Pfui, wie kurzsichtig die Leute sind!“ – „Sind sie nicht so sehr, aber die meisten hassen es zu schreiben, denk an die Schule.“ – „Wir befehlen es ihnen.“ – „Wie?“ – „Der Chef befiehlt es! Oder wir setzen Anreize aus! Wir drucken Plakate!“ – „Okay, dann drucke Plakate.“ – „Toll, endlich geschieht etwas! Aber wer entwirft das Plakat und wer bezahlt es?“ – „Du.“ – „Ich doch nicht, ich hatte nur die Idee! Der Chef muss sie umsetzen, das ist doch klar. Er muss befehlen und die Ausführung kontrollieren, das Geld geben, die Plakate entwerfen lassen, Anreizsysteme in Kraft setzen und Preise einkaufen und verteilen, die Artikel des Wissens auf Qualität prüfen und befehlen, dass die alle lesen. Der Chef, nicht ich!“ – „Wie soll der Chef das alles machen?“ – „Das ist klar, er hat Leute dafür.“ – „Endlich verstehst du es. Das bist du!“ – „Aber ich kann es nicht – und ehrlich gesagt, will ich es auch nicht. Ich habe keine Zeit. Ich hatte doch schon die Idee, ist das nichts? Jetzt tut ihr mal was.“

„Ich habe eine Idee: Wir könnten die Krise 2009 meistern, wenn wir für jedes Arbeitsgebiet in der Firma genau voraussagen, wie viele Leute wir in 2010 und 2011 brauchen. Dann passen wir die Personalstruktur an, verteilen die Leute um und es passiert uns nichts.“ – „Wer weiß denn, wie viele Leute wir brauchen?“ – „Das müssen die doch wissen!“ – „Wenn sie zum Beispiel wissen, dass sie schrumpfen – werden sie uns das sagen?“ – „Das müssen sie!“ – „Sie nehmen dann aber selbst Schaden daran, das weißt du?“ – „Wir schicken sie woanders zur Arbeit!“ – „Und was sagen sie dem Chef, dem sie versprochen haben, den Umsatz zu steigern und eben nicht zu schrumpfen?“ – „Der Chef muss dann einsehen, dass dieses Gebiet schrumpft.“ – „Aber der Chef hat ihnen Wachstum als Ziel gegeben und sie haben das Ziel akzeptiert!“ – „Das dürfen sie dann nicht, außerdem haben sie es aus Angst wider besseres Wissen akzeptiert.“ – „Hast du schon mal ein Ziel nicht akzeptiert?“ – „Da bin ich vorsichtig, das wird gegen mich ausgelegt.“ – „Und du siehst aber, dass man Integrität und Courage braucht, wenn die Prognosen von den Zielen abweichen?“ – „Wir müssen einen Befehl vom Chef geben lassen, dass Integrität und Courage nicht bestraft werden.“

„Ich habe jetzt aber eine echt umsetzbare Idee: Wir bauen im Flieger ein Münzklo ein.“ – „Womit bezahlt man?“ – „Mit Ein-Pfund-Münzen.“ – „Wo haben wir die her?“ – „Die muss man haben.“ – „Und wenn man nur muss?“ – „Man kann ja einwechseln.“ – „Ist dann im Flugzeug eine Wechselstube?“ – „Ja.“ – „Und was macht die Fluggesellschaft mit den Münzen?“

„Ich habe eine Idee: Die Unternehmens-PowerPoint-Folien sollten vollkommen einheitlich sein, auch der Hintergrund muss einheitlich sein.“ – „Aber ein Vortrag vor Aktionären ist anders als einer vor Kunden.“ – „Warum?“ – „Aktionäre wollen, dass der Gewinn sehr hoch ist und die Qualität folglich mittelmäßig; der Kunde will aber hohe Qualität und akzeptiert nur mittelmäßige Gewinne. Da muss jeweils etwas anderes auf die Folien. Vor Mitarbeitern sagen wir zum Beispiel, sie sind unser wertvollstes Gut, vor Aktionären sind sie unser teuerstes. Es kommt auch darauf an, ob jemand etwas von unserer Firma versteht oder nicht. Wir brauchen Blabla-Tralala-Folien und andererseits auch ernsthafte.“ – „Ich bin der Boss und ich nehme immer dieselben für alle Leute, geschworen – und noch nie hat jemand mit mir gemeckert.“ – „Welche nehmen Sie denn?“

„Sie meckern aber auch über alle Ideen, was sagen Sie jetzt zum iPod, häh?“ – „Der iPod ist zum Musikhören, aber der Clou ist nicht der iPod, sondern das Download-Portal.“ – „Seltsame Idee, oder? Eine Computerfirma im Musikgeschäft?“ – „Nein, sie haben die Struktur geschaffen, in der das Produkt gedeiht.“ – „Was machen aber die, die keine 99 Cents für einen Song zahlen können?“ – „Die kaufen eine 1l-Cola-Flasche zu 84 Cents, im Deckel ist ein Download-Gutschein für einen Song für 99 Cents.“ – „Aber wenn das alle machen würden, bräche das Musikgeschäft zusammen.“ – „Sie begrenzen die Downloadgeschwindigkeit.“ – „Ja, und?“ – „Alles perfekt, sie können eben nicht einfach MP3-Player bauen, sie müssen auch Musik und Getränke beschaffen.“ – „Das kam zusätzlich!“ – „Bitte, nein! Sie haben die ganze Struktur drum herum bedacht! Das gibt den Erfolg!“

Tragen Sie eine Idee einem normalen Menschen vor und beobachten Sie ihn. Wenn er dabei nachdenkt oder argumentiert – verloren. Nur wenn jemand fragt, wo man das kaufen kann und wie viel es kostet – gewonnen, auch wenn es noch nicht zu kaufen ist und am Anfang sowieso zu teuer ist. Das kann man später noch regeln. Nur die Struktur muss stimmen – die regelt sich nicht so einfach. Viele Ideen, die an der nächsten Ecke zusammensanken und starben, blühen plötzlich wieder auf, wenn die Strukturen stimmen. Ideen sind oft lange Zeit scheintot. Die wirkliche Kunst ist es, sie dann zu verwirklichen, wenn sie blühen können. Das verstehen Erfinder meist nicht. Die meisten Ideen sind aber die ganze Zeit tot, ehrlich.

„Noch eine: Wir könnten Privatleuten anbieten, über Internet den Computer zu reparieren. Sie geben uns das Passwort und wir beseitigen Viren und laden neue Software.“ – „Wie viel soll das kosten? 50 Euro die Stunde?“ – „Ja, vielleicht, das ist bei Handwerkern so üblich.“ – „Würden Sie so etwas für sich selbst bestellen?“ – „Nein, ich nicht. Ich würde mich eher freuen, wenn mein Computer kaputt ist, dann kaufe ich endlich einen neuen, was mein Partner sonst nicht duldet. Außerdem habe ich sehr private Daten auf dem Computer, die mein Partner nicht sehen darf. Und der Computerspezialist eigentlich auch nicht. Aber es ist doch trotzdem eine gute Idee?“ – „Glauben Sie, dass ein Computer-Laie das Problem überhaupt beschreiben kann?“ – „Nein, kann er nicht, aber das regeln wir doch irgendwie! Immer so negativ!“

Und die beste aller Ideen überhaupt: „Why don’t we eat our own food?“ – Oder: „Warum benutzen wir unsere Produkte nicht selbst?“ Fragen Sie sich das einmal. Diese Idee an sich ist ja wirklich nicht schlecht. Nur tot.

Ich weiß, wir lieben die Ideen, auch wenn sie tot oder scheintot sind. Die Philosophen nennen diesen wohligen Zustand Idealismus. Er hat viele Anhänger.

Gunter Dueck

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