Missbrauch der BILD-Zeitung als Kernintellekt Deutschlands (Daily Dueck 93, Juni 2009)

Auf der ersten Seite der SZ hieß es neulich fast wörtlich (Namen von mir unterdrückt): „Partei und Kanzlerkandidat wollen den Streit in der Öffentlichkeit um die eventuelle Pleite des Konzerns XY nicht weiterführen, weil er der eigenen Partei geschadet hat. Nach Umfragen haben sowohl Partei als auch Kandidat in der Wählergunst verloren.“ Das ist schon fast die so genannte Lean Brain Politik, oder? Man wirft etwas auf den Stammtisch und schaut, ob es absäuft oder nicht!

„Ich bin für die Rettung der Menschen! … Äh, nein? Okay, dann nicht.“

Vor vier Jahren habe ich diese Art von Lean Brain Politik im Lean Brain Buch empfohlen. Das wird nun umgesetzt! Ich bin begeistert. Ich schrieb im Buch (schwach verändert und mit Bitte um Verzeihung für nichtaktuelle Anspielungen; die Partei hatte damals einen anderen Kandidaten, dem Haare viel bedeuteten):

Wenn die Bürger irgendwann fast auf die Straße gehen und protestieren, weil nichts vom politischen System geleistet wird und wenn auch Entschuldigungen nichts mehr fruchten, dann werfen die Politiker jeden Abend im Fernsehen neue Schlagwörter in die Menge. Regierung und Opposition übertrumpfen sich einfach mit kuriosen Bierstammtischplänen. „Steuern auf die Hälfte!“ – „Millionärssteuer!“ – „Erziehungsgeld für Kampfhundebesitzer in derselben Höhe wie bei der Geburt von Söhnen!“ – „Ernennung eines offiziellen Parteifrisörs!“ Nun arbeitet die Redaktion der BILD-Zeitung jeweils die ganze folgende Nacht daran, diese Vorschläge zu sichten und intellektuell zu bewerten. Am nächsten Morgen korrigiert die Volksmeinung die Position der BILD-Zeitung noch um ein paar Nachkommazehntel und gibt sie als Endergebnis einer „Umfrage“ aus.

Die BILD-Zeitung wird in unserer Demokratie als Kernintellekt missbraucht.

Die Parteien lesen alles am nächsten Morgen genau, und wenn zufällig einmal ein Unsinn vom Vorabend überlebt hat und Stimmen zu bringen scheint, wird diese Idee zum Zentrum eines neuen Jahrhundertwahlprogramms aufgemotzt. Fertig. Leider kann nach der Wahl nicht daran gearbeitet werden, weil die neue Regierung erst noch die Wahlversprechen der früheren Jahrzehnte verkraften muss … „Die Rentner sind sicher“ etc.

Wann gehen wir endlich die weiteren notwendigen Schritte und institutionalisieren die volle Lean Brain Demokratie? Wir lassen die Staatssekretäre ohne die täglich störenden BILD-Zeitungskapriolen der Minister einfach normal fleißig arbeiten und inszenieren die Wahlen als Event oder Casting-Show. Die Regierung und die Opposition dienen dann nur noch als Schauspieler für Reality-Shows. Wir sollten ständig Wahlen haben, nicht immer diese ermüdende Zeit dazwischen, wo Politiker nichts entscheiden können, weil die Wähler keinen Druck ausüben. Wenn aber Wahlen sind, ist der Druck der Wähler so groß, dass wegen des Wahlkampfes auch nichts entschieden werden kann. Das macht aber nichts, weil es jetzt wegen der Wahl nicht langweilig ist. In der Casting-Show bekommen die Kandidaten von Heidi Klum oder Lothar Matthäus die Aufgabe, ein Regierungsprogramm freier Wahl flüssig in zwei Minuten vorzutragen. Dann rufen die Zuschauer an und wählen das Programm oder den Kandidaten oder irgendetwas Passendes aus. Die Anrufe kosten wie immer 49 Cents, was so viel Geld einbringt, dass alle Steuergesetze gestrichen werden können. Das Niveau des Fernsehens verändert sich gleichzeitig um einen historisch noch nicht gesehenen Qualitätsbetrag und wird endgültig volksfest.

Ach, im Ernst: Ist es nicht traurig, dass es keine Meinungen, Fronten und Diskussionen mehr gibt? Werden nun Haltungen, Einstellungen und Ethiken zum Kriegführen, zur Umwelt oder zum ökonomischen Zweck des Menschen nur noch nach Tagesumfragen gestylt? Wie kann eine langfristige Politik umgesetzt werden, wenn täglich neue Konzepte vom Stammtisch tropfen?

Früher, als die Grünen noch Turnschuhe trugen und ebensolche unausgetretenen Ansichten vertraten und Fundamentales kannten – da wurde um Positionen noch gerungen! Früher waren die Freien noch wirklich frei in Ihrer Meinung und fühlten sich nicht zum Parteiprogramm der reflexhaften Widerrede gegen jede von anderen geäußerte Meinung verpflichtet, auch wenn es die eigene ist. Früher hatte Linkssein eine gewisse intellektuelle Vornehmheit, sie war nicht dazu da, extremitätisch um sich zu beißen.

Und da frage ich mich, was die Politiker dazu bewegt, heute diese neuen Spielchen zu treiben. Es kann doch sein, dass sie nach unserer Stimme tanzen?! Und ist die Demokratie nicht so gedacht? Und wie wollen wir sie? „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“ Wir quälen sie wie Superstars, Supertalente, Next Supermodels, noch Ungefeuerte – sie müssen vorspielen wie Big B(r)others, wir bewerten sie und lassen sie minutenlang unter teuflisch indifferentem Gebabbel leiden, bis wir ihnen sagen, dass sie raus sind.. Das ist wahre Machtausübung. Und im Grunde ist es so:

Das Publikum macht das Theater.

Publikum! Mach Theater im Theater, aber lass die Politik nicht in Theater ausarten! In der Politik bist Du nicht Publikum, sondern hier sind Sie verantwortlicher Bürger, dem es daran liegen sollte, mit seiner Stimme beizutragen, die gegenwärtige Krise zu bewältigen und unerschrocken in die Zukunft zu schreiten. Es ist nicht Ihre Krise, ich weiß, aber es ist letztlich doch Ihre Krise, glauben Sie mir. Springen Sie den Politikern ins Kreuz und seien Sie nicht nur eines für sie. Missbrauchen Sie sie nicht als Staatsschauspieler für den Kernintellekt Deutschlands. Verlangen Sie Taten! Und beurteilen Sie nicht täglich! Sie selbst hassen doch Chefs, die jede Woche an Ihren Zahlen herumkritteln und Ihnen als zuschauendes kritisches Publikum bei Ihrer Arbeit ständig mit Beifall und meistens Buhrufen Theater machen. Sie selbst sind es doch, die unter dem Chef-Publikum täglich leiden. Sie selbst stöhnen doch, dass man vor lauter Publikum kaum noch zum Arbeiten kommt! Also lassen Sie doch die Politiker einfach arbeiten, ja? Vielleicht können die das ja sogar, wenn wir sie nur lassen? Vielleicht geben wir ihnen sogar einen kleinen Spielraum für Eigenverantwortung?

Gunter Dueck

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