Wie erzeuge ich Schizophrenie? (Daily Dueck 92, Juni 2009)

Psychische Störungen werden ja meistens ziemlich spät diagnostiziert – wenn sie schon stark nerven. Dann überlegen alle, wie es dazu kommen konnte. Wenn sich diese Frage nicht gut beantworten lässt, muss es an einem genetischen Defekt liegen, für den niemand verantwortlich ist. Dass Störungen fast planmäßig erzeugt werden können, will niemand hören. Dabei geht es doch in der Vorstellung ganz gut, oder? Wie erzeugen wir zum Beispiel Schizophrenie?

Ich schreibe gerade noch ein bisschen Text zum Erscheinen der zweiten Auflage meines Buches Topothesie – der Mensch in artgerechter Haltung. Darin schildere ich, wie eine Mutter in einem Kind schizophrene Zustände erzeugen kann, indem sie ihm zu hohe Ziele einredet und die Zielerreichung ununterbrochen prüft und ratschlagend begleitet. Kurz geschildert geht es etwa so:

Eine Mutter liebt ihren Sohn abgöttisch. Er ist ihr Ein und Alles. Sie hält ihn für den kommenden Gott der Menschheit. Er soll ein Superstar werden. Sie weiht sich selbst und ihren Sohn diesem utopischen Ziel. Sie gibt ihrem Sohn schon von Geburt an diese Aufgabe mit. Er wird etwas sehr viel Besseres werden. Eine Nummer 1. Sie wacht argwöhnisch auf den Fortschritt und beobachtet den Sohn beständig bei allem, was er tut. Sie krittelt herum, wie er grüßt, wie er schaut, wie er lernt, wie er den Löffel hält, vor allem, mit wem er spricht und spielt. Nicht mit jedem! Nicht mit Niedrigen!
Der Sohn ist stolz, einst Superstar zu werden, fühlt sich aber durch die große Pflicht bedrückt. Die anderen Kinder leben normal, aber er geht den steilen Weg. Die Mutter ist immer da. Sie überwältigt ihn mit ständigen Signalen, wie weit er schon ist, was er falsch macht, wie er besser werden kann. Die Mutter wird ihn lieben, wenn er es geschafft hat. Sie liebt ihn vorgreifend schon jetzt, quasi auf Kredit, den er abzahlen muss.
Wenn der Sohn älter wird, sieht er, dass er zwar ein prächtiger Mensch zu werden verspricht, aber im Verhältnis zum Traum der Mutter kaum Fortschritte macht. Er ist nicht sehr viel besser als die Niedrigen um ihn herum. Er beginnt zu erschrecken. Wenn er der Mutter die Wahrheit sagt, dass er den Liebeskredit nicht zurückzahlen wird, wird es eine Katastrophe geben. Wenn er weiterhin versucht, Superstar zu werden, geht er sehenden Auges in einen sicheren Misserfolg, der ebenfalls in einer Katastrophe mit der Mutter enden wird. Er kann wählen: Sofortiger Krieg oder lange Agonie. Das Grauen angesichts dieser beiden Todesarten zerreißt ihn. Diese Zerrissenheit fühlt er am stärksten, wenn die Mutter in seiner Nähe ist. Er liebt seine Mutter, er liebt es, dass sie nahe ist. Wenn sie aber nahe ist, bekommt er Rat, wie er Superstar wird – und damit unausgesetzt indirekte Vorwürfe, dass er es bisher noch immer nicht geschafft hat. In der Gegenwart der Mutter zerreißt seine Seele – zwischen seinem Liebesbedürfnis und der Sorge der Mutter, dass er versagt. Die Mutter sagt mit jedem Satz, dass sie ihn liebt und dass sie mit ihm äußerst ungeduldig ist, weil er ihr Leben zerstört, wenn er versagt. Die Mutter ist nun immer eindringlicher. Sie klebt an ihm. Er fürchtet ihren immer wie tadelnden Blick wie einen Messerstich und will doch ihre aufmerksame Liebe so sehr.
Über die Jahre wird aus dem Knaben ein junger Kerl. Er hält es nicht mehr aus. Er beginnt, mit sich selbst zu diskutieren. Er fühlt sich permanent durch Blicke gestochen. Denn die Lehrer in der Schule sind allesamt nichts weiter als der lange Arm der Mutter. Er will Ruhe vor Blicken haben! Vor Signalen seines Versagens. Er duckt sich ab. Er ist vollkommen verheddert und gleichzeitig zerrissen. Manchmal versucht er zaghafte Wutausbrüche, aber die Mutter fängt ihn vorwurfsvoll blickend schnell wieder ein. Nie kann er klarmachen, was ihn wirklich quält. Er weiß es ja selbst nicht genau.

Was ist Schizophrenie? Gedanken und Gefühle werden als fremd und von außen gesteuert erlebt. Viele ganz zufällige Vorkommnisse werden überstark wahrgenommen und sehr oft bedrohlich interpretiert. Eigene Gedanken werden oft als Stimmen gehört. Die Umwelt des Schizophrenen nimmt ihn emotional wie reduziert oder auch ganz unangemessen wahr. Die Schizophrenie erscheint („manifestiert sich“) beim Menschen meist im Alter von 15 bis 25 Jahren und zeigt sich in beginnenden Gefühls- und Willensstörungen. Die Entstehungsursache der Schizophrenie ist noch unbekannt, auch wenn sie viele Wissenschaftler schon kennen – schreiben sie wenigstens.

Aber die geschilderte Strategie der Mutter sieht doch schon ganz passend aus? Ich will nicht sagen, dass sie die einzige Strategie ist oder eine, die immer funktioniert. Ich will nur eindringlich vor solchen Strategien warnen, die von eigenen Utopie-Syndromen ausgehen. Wer ist dann eigentlich krank? Die Mutter oder der Sohn? Wenn die Mutter mit kaltem Blut so verfährt – in der Hoffnung, es könnte ja mit dem Superstar klappen und sie reich machen – dann nur der Sohn?? Die meisten Psychotherapeuten behandeln den, der eingeliefert wird. Sie kennen natürlich auch die wahrhaft Kranken, aber die würden nur wütend, wenn man ihnen zum Kommen riete, und wechselten „den Arzt“.

Das Management einer Firma hat den Traum, sie zum führenden Weltunternehmen umzubauen. Es weiht sich selbst, die Firma und alle Mitarbeiter diesem Ziel. Sie gibt dieses Ziel den Mitarbeitern jede Sekunde mit. Sie wacht argwöhnisch auf den Fortschritt und beobachtet die Firma und alle Mitarbeiter beständig bei allem, was geschieht. Sie krittelt herum, wie Kunden gegrüßt werden, wie hoch der Einsatz ist, wer lange in Urlaub geht…
Die Mitarbeiter sind stolz, in der einst führenden Firma zu arbeiten, sie fühlen sich aber durch die große Pflicht bedrückt. Das Ziel ist groß, aber die Pein der unendlichen Überprüfungen auch. Sie könnten den Boss warnen, dass sie es nicht schaffen, das aber würde zur Katastrophe. Sie könnten einfach weiterarbeiten und nur ganz normal wie eine durchschnittliche Firma abschneiden – das würde ihnen aber nicht verziehen. Normale Leistungen werden nicht gewürdigt! Für diese Würdigung aber leben sie.
In der Nähe eines Managers zerreißt es sie. Sie wollen gewürdigt werden, bekommen aber nur Signale, wie sie besser würden, also indirekte Vorwürfe des Versagens.
Die Manager werden immer eindringlicher, je länger die Firma normal bleibt. Das wollen sie nicht! Für so kleine Ziele opfern sie sich nicht! Da fühlen die Mitarbeiter die Blicke oder Reviews des Managements wie Messerstiche und sehnen sich gleichzeitig nach Anerkennung. Sie sind ganz verheddert und zerrissen. Bei der Arbeit erscheinen ihre Gedanken oft wie von außen gesteuert. Zufällige Fluktuationen im Geschäft werden unerhört wichtig genommen, übergewichtig gefühlt und meist bedrohlich interpretiert. Die Mitarbeiter reduzieren sich emotional mehr und mehr. Das sieht das Management ganz enttäuscht als innere Kündigung und denkt über stärkere Signale nach…
Was ist hier krank oder handelt falsch? Der, der behandelt wird? Der, der andere an Utopien scheitern lässt?

Was soll ich sagen? LASSEN SIE DAS.
Oder merken Sie wenigstens, was Sie tun, wenn die von Ihnen angestrebten späteren Nummer Einsen ängstlich Ihren Blicken ausweichen. Dann muss sich später auch nichts mehr manifestieren, wovon die Entstehungsursache nicht aufgeklärt werden kann. Sie können die Mitarbeiter feuern oder die Manager wechseln, das Problem der Utopie bleibt.

Ziele muss man mit gemeinsamem Herzen stemmen.

Gunter Dueck

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