Utopiesyndrome überall (Daily Dueck 91, Mai 2009)

Das Wort Utopiesyndrom habe ich bei Watzlawick als Kapitelüberschrift im Buch Lösungen gefunden. Es geht um das Anstreben von unerreichbaren Zielen, deren Aufstellen derzeit fast gängige Praxis ist. „Wir wollen Nummer 1 werden.“ – „Wir werden gestärkt aus der Krise hervorgehen, indem wir von ihr enorm profitieren.“ Und im privaten Sektor gibt es Formen wie diese: „Ich bin finster entschlossen, ein absolut sinnvolles Leben zu führen.“ – „Ich will immer schön sein.“ – „Wir wollen die ideale Liebe leben.“ – „Meine Kirche ist die wahre.“

Das Vorgehen ist einfach: Man stellt einen utopischen Wunsch auf und folgt ihm unbeirrt. Das Nachdenken über die Utopie als solche wird zum absoluten Tabu erhoben. Nun aber frisch ans Werk! Da die vom Utopiesyndrom Befallenen die Utopie nicht erreichen können, müssen sie ab und zu Erklärungen dafür finden, woran das wohl liegt. Von außen gesehen liegt es an der Unerreichbarkeit des Ideals, aber diese Sicht ist – was nicht oft genug erwähnt werden kann – mit einem Tabu belegt. Watzlawick/Weakland/Fisch diskutieren drei „Erklärungen“:

• „Ich selbst bin unfähig und schuld – ich schäme mich, es nicht zu schaffen.“
• „Was ich mir vornahm, ist ungeheuerlich schwer, es dauert einfach nur etwas länger als ich dachte.“
• „Andere blockieren meinen Erfolg oder helfen mir nicht. Ich zerbreche wegen der anderen.“

Sie können sicherlich viele Beispiele neben sich sehen. „Der Sozialismus wird ganz gewiss in den idealen Kommunismus münden, es dauert noch etwas.“ – „Meine Ehe ist die Hölle, weil ich einen Teufel zum Partner habe.“ – „Immer wieder passieren mir kleine Fehler, ich kann machen, was ich will.“ Es gibt aber zusätzlich verschiedene Zusammensetzungen, dachte ich beim Lesen. Bei Verheirateten wäre es doch schön, wenn sich der eine für das Scheitern der Ehe schuldig fühlen würde und der andere die Schuld eben bei diesem einen sehen könnte? Dann passt es perfekt zusammen! Oft suchen ja beide die Schuld beim anderen, dann lassen sie sich scheiden und suchen einen, der den Fehler in sich selbst vermutet.

In vielen Unternehmen werden unerreichbare Ziele gesetzt. „Wir wollen uns ehrgeizige Ziele setzen, für die es sich zu leben lohnt.“ Dadurch entstehen oft ganz kunstvolle und sehr stabile Komplexe: Da die Ziele nicht erreicht wurden, prügeln die Manager nach unten. „Ihr arbeitet nicht hart genug!“ Stufe für Stufe werden die Prügel nach unten gegeben. Die Mitarbeiter bekommen die Prügel zuletzt. Sie sind am Ende die Schuldigen und müssen sich Vorwürfe machen. Dagegen begehren sie innerlich auf, müssen aber mit dem Vorwurf leben. Die Manager aber sind in einer Zwitterstellung. Sie wissen, dass ihre Mitarbeiter schuldig sind, aber sie selbst bekommen die Schuld ja von ihrem direkten Chef. Nach oben müssen sie sich also für die Zielverfehlung schämen, nach unten werden sie deswegen schäumen. Und nur ganz oben sagt der Boss: „Ich werde die Welt verändern, aber das geht nicht an einem Tag. Es dauert, weil ich noch viel an den Köpfen verändern muss.“ Er ist nicht schuldig, sondern ein Titan. „Ich brauche zwei Jahre, um eine Mannschaft zu formen, die wurden mir nicht gegeben!“, erklärte so etwa gestern ein von Bayern München gefeuerter Trainer. „Ich kann nicht einfach schlechte Spieler austauschen, ich muss die nehmen, die ich vorfinde.“

Wenn ein Unternehmen oder eine Gemeinschaft unerreichbare Ziele verfolgt, muss sich jeder entweder gleich direkt schuldig fühlen oder die Schuld irgendwo suchen, zum Beispiel innen oder außen bei den gemeinen Wettbewerbern. Nach außen vertreten alle einheitlich die offizielle Position, dass alles ausgesprochen gut laufen wird, aber noch etwas länger dauert. „Wir sind jetzt optimal aufgestellt und warten auf die Früchte unserer entschlossenen Aktionen.“


Das Ziel aber ist unerreichbar. Stellen Sie sich vor, eine Firma wächst nur so stark wie der Markt, nicht doppelt so schnell, und jemand ruft auf dem Flur: „Ich bin glücklich bei der Arbeit.“ Da zucken alle zusammen, denn das darf man erst sein, wenn das Ziel erreicht ist. Das Erreichen des Ziels ist das Glück! (Deshalb ist Kommunismus oder Fundamental-Grün-Sein oder radikaler Feminismus oder alles Radikale als Unerreichbares immer schwach freudlos.) Wer das Glück in dieser Situation auch woanders empfindet, nicht nur im Erreichen des Ziels, macht sich schuldig. „Ich bin glücklich bei der Arbeit“ ist das klare Signal, dass sich hier jemand nicht genug für das Ziel einsetzt, weil er schon jetzt glücklich ist. Deshalb ist der Glückliche in Anwesenheit eines unerreichbaren Ziels schwer schuldig.

Und wir sehen: Niemand darf offen Glück zeigen, wenn das Glück nur im unerreichbaren Ziel bestehen kann. Dann kommt es zum negativen Utopiesyndrom: Wer nicht überlastet ist, bemüht sich nicht richtig – so sehen es alle. Wer nicht leidet, ist schuldig. Daher überlasten sich alle, um nicht schuldig zu sein. Sie überstressen sich und erreichen nun das Ziel ganz bestimmt nicht, weniger als je vorher. Aber sie sind nicht schuldig, weil sie leiden.

Der einfachere Weg ist es, nur zu leiden, ohne sich zu überlasten. Und noch einfacher: „Lerne zu klagen, ohne zu leiden.“ Wer klagt, ist nicht schuldig.

Wenn sich in einer Zeit die meisten Menschen in Utopiesyndromen verfangen haben, weil sie unerreichbare Ziele verfolgen, dann sind alle schon ohne weiteres schuldig, wenn sie nur glücklich sind oder nur nicht klagen. Sie haben dann keine unerreichbaren Ziele! Darf man zum Beispiel so etwas sagen? „Ich habe vier großartige kleine Kinder und betreue sie ganztags, es macht mich total glücklich.“ – „Ich bin Frührentner, mir reicht die kleinere Rente. Jetzt sitze ich oft in der Sonne oder ich spiele Rasenschach. Das habe ich mir verdient.“ – „Ich studiere so gerne, ich will noch so viel lernen und reisen! Ich hänge noch zwei Semester dran.“ Solche Menschen leiden nicht! Sie klagen nicht! Was sind denn das für Menschen?

Es sind oft ganz normale natürliche Menschen, keine utopischen.

Gunter Dueck

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