Blockierte Unternehmen (Daily Dueck 90, Mai 2009)

Ein Leser bat mich einmal, das Buch Lebenslust von Manfred Lütz zu lesen – das würde mir gefallen. Es ist im Prinzip keine gute Idee, mir das Lesen von Büchern zu empfehlen, weil ich sooo viel Rat diesbezüglich bekomme, dass ich praktisch immer peinliche Ausreden vorbereiten muss – verstehen Sie meine Lage? Außerdem lese ich nicht gerne Bücher, die meine Meinung bestätigen. Es sollte mich doch erweitern!

Ich habe mir den Autor angeschaut. Lütz. Theologe. Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Hmmh. Das hat doch etwas? Er hat viele Bücher geschrieben. Eines heißt: Der Blockierte Riese. Was meint er damit? Untertitel: Psycho-Analyse der katholischen Kirche. Ich habe es gelesen und schreibe hier, was mich besonders berührt hat.

Lütz ist atemberaubend frech. Er vergleicht doch tatsächlich die katholische Kirche – natürlich mit allem nötigen Respekt – mit einem normalen deutschen Alkoholikerhaushalt! Uiiih, ob er inzwischen schon exkommuniziert ist? – So, jetzt sind Sie hoffentlich ganz gespannt, was ich sagen will. Nichts da! Ich hole noch einmal aus: Was fällt Ihnen bei der katholischen Kirche ein? Ich sage einmal als Protestant frisch von der Leber weg, was mir selbst dazu einfällt: Zölibat, Priesterin, Abtreibung, Kondome, Unfehlbarkeit. Darum ranken sich anscheinend alle Tagesdiskussionen. Und ich vermisse von außen als Christ etwas: Wo – bitte – bleibt der Glaube? Das Ewige?

Manfred Lütz nennt es Problemtrance. Die katholische Kirche zerreißt sich an der Peripherie. Sie vergisst fast das ewige Leben über den Kondomen. Wenn früher der Bischof eine Gemeinde besuchte – es heißt wohl korrekt: visitierte – dann sah er nach dem Rechten und gab Motivation, so schildert Lütz. Heute kommt der Bischof wirklich nur zu Besuch. Die Vertreter der Kirchengemeinde bereiten den Besuch vor und überlegen wochenlang, wie die Zeit mit ihm sinnvoll genutzt werden könnte. Sie brainstormen und planen. Am Ende beschließen sie, den Bischof in Bezug auf die sie selbst bewegendsten Fragen anzusprechen. Das sind: Zölibat, Priesterin, Abtreibung, Unfehlbarkeit. In diesen Themen liegen Zeichen für sie, das etwas nicht gut ist. Der Bischof kommt und soll etwas dazu sagen. Das kann er natürlich nicht. Er steht im Zwiespalt seiner persönlichen Meinung, der offiziellen Meinung der Kirche und der Erwartung der besuchten Gemeinde. Lütz schreibt, wie Bischöfe wohl antworten: Rheinisch mit Augenzwinkern und „nehmt es nicht so ernst“ oder preußisch hölzern pflichtbewusst oder kumpelhaft gesellig mit „ich bin einer von euch“. Was auch immer der Bischof sagt, befriedigt niemanden, denn er gibt keine Antwort. Es gibt keine gute Antwort in dieser Lage. Je nach Bischof ist die Antwort drohend, formal, gereizt oder mit einer kunstvoll verschluckten Bemerkung über Haushälterinnen, wenn er sich traut? Danach fährt der Bischof nach Hause und ist sehr unbefriedigt. Immer dieselben Fragen! In jeder Gemeinde! Und er kann nie antworten!

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Stellen Sie sich einen archetypischen Alkoholiker mit einer archetypischen Frau und einem archetypischen Sohn vor. Wenn der Alkoholiker gut drauf ist, versprüht er Charme und alle atmen auf. Dann verfällt er in einen Rausch und verdunkelt als Rüpel seine kleine Welt. Die Frau arbeitet wie wahnsinnig und hektisch daran, die Sucht nicht an die Öffentlichkeit kommen zu lassen. Sie verteidigt den Mann, entwertet aufkommende Gerüchte, stellt seine positiven Eigenschaften ins grellste Licht. Sie hofft, außen die Lage zu retten, bis sie sich innen gebessert hat. Daran zweifelt sie nie – dass sie sich innen bessert! Der Sohn aber hat zu viele Schläge bekommen. Er hat alle Schwüre des Vaters gehört, nie wieder einen Tropfen anzurühren. Er ist zynisch geworden und glaubt ihm nichts mehr. Er schimpft mit dem Vater und lässt kein gutes Haar an ihm. „Du Saufsack vernichtest uns nur – ich hasse dich!“ Er verlangt ohne rechte Überzeugung auf Machbarkeit eine Entziehungskur und eine gemeinsame Anstrengung, den Haussegen gerade zu rücken und das Ziel eines glücklichen Familienlebens anzustreben. Er verlangt vor allem eine sofortige Bereitschaft zur Problemeinsicht und am besten auch eine Entschuldigung, dass alles so kam. Das ist das klassische Drama-Dreieck der Transaktionsanalyse zwischen dem „Problem“, dem „Retter“ und dem „Verfolger“.

Das Drama aber ist dies: Die Frau wirft dem Sohn vor, durch seine Zynismen die Problemlösung im Innern zu verhindern. Der Sohn wirft der Mutter vor, das Problem künstlich am Leben zu erhalten und an der langen Agonie schuldig zu sein. Nun beginnen sie sich zu hassen. Sie streiten und toben. Der Alkoholiker aber schläft und trinkt und wütet und schlägt. Bis zum Ende aller Tage.

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Viele Unternehmen leiden. Die wahren Probleme sind bekannt: Die Innovationsfähigkeit sank, die Kunden sind mit den sehr „effizienten“ Services nicht mehr zufrieden, die Qualität der Produkte sinkt, es gibt Reklamationen. Die Unternehmenskultur ist durch Stress geprägt. Die Mitarbeiter sind demotiviert, weil es keine Lohnerhöhungen gibt und es zu Entlassungen kommt. Die Managergehälter sind dagegen zu hoch. Über diese Symptome streiten sich alle und vergessen darüber die Innovationen, die Kunden und die Weltmärkte. Kurz: Der Haussegen hängt schief.

Wenn früher ein Top-Manager die Mitarbeiter eines Werkes besuchte – dann sah er nach dem Rechten und gab Motivation. Heute kommt er wirklich nur zu Besuch. Die Vertreter des Werkes und die Betriebsräte bereiten den Besuch vor und überlegen wochenlang, wie die Zeit mit ihm sinnvoll genutzt werden könnte. Sie brainstormen und planen. Am Ende beschließen sie, den Top-Manager auf die sie selbst bewegendsten Fragen anzusprechen. Das sind: Gehälter, Arbeitszeiten, Entlassungen, Managergehälter. Da liegen Zeichen für sie, das etwas nicht gut ist. Der Top-Manager kommt und soll etwas dazu sagen. Das kann er natürlich nicht. Er steht im Zwiespalt seiner persönlichen Meinung, der offiziellen Haltung des ganzen Unternehmens und der Erwartung der besuchten Mitarbeiter. Was werden die Top-Manager wohl antworten? Rheinisch mit Augenzwinkern und „nehmt es nicht so tragisch“? Oder preußisch hölzern pflichtbewusst? Oder kumpelhaft gesellig mit „ich bin einer von euch“? Sie sagen: „Wir werden gestärkt aus der Krise hervorgehen!“ Oder: „Wir sind bestmöglich aufgestellt, obwohl es nicht einfach ist.“ Oder: „Wir lassen niemanden aus der Verantwortung, Höchstleistungen und Top-Ergebnisse zu bringen - niemand komme auf die Idee, sich mit der Krise zu entschuldigen.“ Was auch immer der Top-Manager sagt, befriedigt niemanden, denn er gibt keine wirkliche Antwort. Es gibt keine gute Antwort in dieser Lage. Je nach Manager ist die Antwort drohend, formal, gereizt oder exaltiert begeistert. Danach fährt er nach Hause und ist sehr unbefriedigt. Immer dieselben Fragen! In jedem Werk! Und er kann nie antworten!

Die Manager agieren meistens als die gefühlten Retter. Sie versuchen zu oft, die Lage nach außen schön darzustellen und alle inneren Probleme gegenüber den Kunden und Mitarbeitern offensiv zu ignorieren, bis sie innen gelöst sind. Dass sie innen irgendwann gelöst werden, daran zweifeln sie nie. Viele Mitarbeiter und Kunden hadern. Sie sind zynisch und glauben den Besserungsschwüren des Systems nicht mehr. Sie wollen es radikal anders haben, nämlich den Haussegen wieder gerade rücken und die Kunden zufriedener bekommen – aber die Führungskräfte warten auf die innere Heilung, die sie sehr bestimmt erwarten, weil sie so oft und sorgsam im Unternehmen die Stühle hin und her gerückt haben. Aber wenn die beiden Seiten über dem System streiten, diskutieren sie doch nur die peripheren Probleme. Immer wieder und wieder: Leistungsmessungen, Gelder, Budgets, Incentives.

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Das Zentrale ist das Ewige, der Glaube, die Familie, die Prosperität der Menschen, sind funktionierende Märkte und florierende innovative Unternehmen in der Zukunft. Die Herrschenden glauben, dass sie eigentlich dafür sorgen, und sie halten Fehler im System für Fehler, die heilbar sind – sie sehen sie fast nie als Symptome einer kompletten Funktionsuntüchtigkeit des Ganzen. Die Bürger oder Mitarbeiter sehen grundsätzliche Untüchtigkeit viel heller und klarer, aber sie fordern dann doch wieder, die Symptome zu kurieren, weil sie von unten aus zwar das Ganze sehen, aber nicht gut verstehen, wie man ein System wandeln müsste. Die da oben versuchen es also gar nicht, weil sie hoffen, es werde sich von allein lösen. Die da unten können es mangels Fähigkeit nicht ändern und tragen aus dieser Unkenntnis dazu bei, dass immer nur über Symptome und Peripheres geredet wird. Das System aber dümpelt so vor sind hin. Es ist das stärkste der Drei. Kirche, Staat, Unternehmen, Familie, was auch immer.

Gunter Dueck

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