Die Arroganz der Routiniers gegen uns Neulinge (Daily Dueck 88, April 2009)

Wir feiern ja gerade Ostern und ich stelle mir vor, ein Fremder aus einer fernen Kultur ist bei uns zu Gast. Wir stehen vom Osterbrunch auf und schauen ihn erwartungsfroh an: „Nun suche!“ Er wird fragen: „Was denn?“ – „Na, Eier!“ Er blickt auf den Tisch, wo noch gefärbte Schalen liegen. Er versteht nicht, was von ihm erwartet wird. Und wir brüllen ihn wütend an: „Suche endlich! Wir haben extra welche für dich versteckt! Überall!“ Da schaut er rätselhaft verzweifelt um sich und ist verletzt. Es tut ihm weh. Wir aber finden, er nervt uns mit seinem abgrundtiefen verwerflichen Unwissen. Was will er denn überhaupt Ostern bei uns? Sollen wir ihm jetzt etwa die ganze Geschichte des Christentums inkl. der kirchenamtlichen Hasenkunde erklären?

Das war jetzt eindeutig zu krass, aber Sie sollten sich Ihre aufgerührte Emotion für die restlichen Beispiele aufheben. So wie im „künstlich harten“ Beispiel ist es in Wirklichkeit sehr oft!

Die eine Seite weiß alles ganz genau, die andere ist vollkommen ahnungslos. Die wissende Seite will zum Beispiel: „Schicken Sie eine Krankenversicherungsbescheinigung nach § 257.“ – Oder: „Klar bekommen Sie das Geld, aber wo haben Sie die Testamentseröffnung?“ Wir wissen nicht, was sie wollen. In den USA fragen sie uns: „American Breakfast? Okay. Juice?“ – „Yes.“ – "Which juice?“ – “What do you mean?” – “Which juice?” – “What do you offer?” – “Orange, Grape.” – “Grape.” – “Okay, Toast?” – “Yes.” – “Oh god, which toast?” – “What do you offer?” – “Wheat, rye.” – “Oh, please, bring the first choice of everything.” – “Okay, coffee?” – “Yes! Sorry – you don’t expect a yes, I understand, I understand. I mean, what do you offer?” – “Coffee? Yes or no?”
Immer ein Ahnungsloser gegen einen Eingeweihten. Viele von uns haben einen Beruf, in dem sie für einen so genannten Prozessablauf zuständig sind. Hier wissen wir ganz genau Bescheid. Jede Feinheit ist uns klar. Bei dem meisten Anderen in unserem Leben aber sind wir Anfänger ohne jeden Schimmer – ich wollte fast Jungfrau schreiben, aber die wäre ja schon aufgeklärt.
„Internet? Wir schicken einen Splitter und einen Mini-Router.“ – „Hauskauf? Ein- oder Zweifamilie? Anlage V.“ – Ich sollte eine Krawatte, die der Versender versehentlich aus der Schweiz verschickt hatte, im Zollamt verzollen. Die Krawatte lag vor uns als Corpus Delicti. „Ist sie gewebt oder handgefertigt?“ Ich zeigte darauf. Er herrschte mich an, wahrgemäß Auskunft zu geben und deutete meine Hilflosigkeit als mangelnde Kooperation. „Ist sie aus Seide?“ Ich nickte, weil sie sehr teuer war. „Sie nicken so einfach. Wissen Sie es genau?“ Ein Computerprogramm wurde schließlich mit irgendwelchen Vermutungen gefüttert und berechnete dann die Zollstrafe mit 4 Euro 30 im Namen des Volkes.

Es ist so oft das erste Mal! Wir haben beim ersten Mal keine Ahnung. Es fehlt jede Aufklärung. Wir werden aber von den Wissenden angesprochen, als wären wir schon das tausendste Mal da. Dabei heiraten wir doch nur alle Jubeljahre und haben selten Erbfälle. Wir schaffen selten eine neue Küche an, sind nicht so sehr oft arbeitslos, verlieren nicht oft den Hausschlüssel oder haben selten einen Autounfall. Aber die Zuständigen sind allwissend und pochen auf die Einhaltung der hier gültigen Regeln. Für uns Unwissende lohnt es sich aber ganz und gar nicht, uns jemals diese Usancen zu merken. Weil wir ja nicht oft heiraten oder promovieren, sind die Regeln beim nächsten Mal mit Sicherheit ganz anders. „Kopien von Urkunden waren bis ins letzte Jahr erlaubt. Jetzt natürlich nicht mehr.“ Noch schlimmer: Die zuständigen Leute sind immer ganz andere und kennen die Historie nicht. „Kopien waren noch nie erlaubt.“ – „Immer!“ – „Nicht, solange ich hier bin.“ – „Seit wann?“ Vier Monate – das sei hier schon lange. Die pseudowissenschaftlichen Theorien hinter den heiligen Regeln ändern sich ebenfalls. „Bei Feueralarm alle Türen schließen!“ – „Warum?“ – „Weil mangelnder Luftzug das Feuer hemmt, Sie Tropf!“ – „Bei Feueralarm die Türen alle aufreißen!“ – „Warum?“ – „Weil die Feuerwehr dann weiß, dass sie in diesem Raum niemanden retten muss. Manchmal schließt nämlich mittags einer zu und schläft ein bisschen. Wollen Sie den hinrichten? Sie Elender!“ Manchmal wollen sie eben die Menschen retten, heute aber eher die Häuser.

Überall trifft man auf mehr oder weniger willkürliche Konventionen mit kürzlich halbtagsausgebildeten Gralshütern. Und alle posieren sie wie Pfauen in ihrem Mehr-Wissen von fünf oder sechs Regeln und machen uns zur Schnecke. Wehe also dem, für den es das erste Mal seit Änderung der Regeln ist! Sie tun uns immer weh. Sie haben kein Verständnis, dass es das erste Mal ist. Sie tun uns rücksichtslos weh.

„Wo wollen Sie hin, in Gottes Namen?“ – „Ein Übungsrunde Golf.“ – „Nicht in Jeans, gnädige Frau. Nicht hier auf dem edlen Platz, dafür war die Green Fee zu hoch.“ – „Wie denn sonst?“ – „Anständig.“ Zwanzig Minuten später: „Halt, halt! Gelb ist verboten!“ – „Es sind jetzt aber keine Jeans.“ – „Diesmal ist der Stoff in Ordnung, aber die Farbe verboten.“ – „Dann kommen Sie am besten mit auf mein Zimmer?“ Oder:
„Hallo Herr Dueck, zu Ihrem Vortrag möchte ich noch eine Bemerkung machen. Kennen Sie die klassische Komödie Horribiliscribrifax?“ – „Nein.“ – „Waaas? Waaaaas? Das muss ich von Iiiiiihnen hören? Die kennen Sie nicht?“ – „Nnnein.“ – „Das darf doch nicht wahr sein, sie schreiben doch auch! Ich kenne sie, manches erinnert mich darin an Sie. Ich weiß nur nicht, was.“

Hört auf – Ihr Alleswisser und Hohe Priester! Verkneift euch die hochnotpeinlichen Blicke auf uns Laien! Hört auf, uns mit Abkürzungen und Geheimausdrücken zu quälen! Tut nicht so, als sei alles in eurer Nähe heilig und sonst nichts! Ich protestiere! Ich bin ein Mensch und allenfalls so wie ihr, wenn ich morgen früh selbst arbeite und ihr bei mir etwas erbitten müsst!

Hier wollte ich eigentlich enden. Richtig schön emotional. Dabei spreche ich hier ein ganz wichtiges Problem an. Die Prozessablaufdesigner schwelgen in Abkürzungen und Orgcharts, sie arbeiten winzigste Details aus, wer sich wie bei den Workflows zu benehmen hat. Jeder hat seine genau choreographierte Rolle. Diese Rollen werden nach der Reorganisation wieder und wieder eingeübt. Jeder hat zu wissen, was er zu tun hat. Dann werden die Türen für die Kunden geöffnet. Für ahnungslose und, schlimmer noch, vielleicht unbekümmerte Menschen wie mich, die ihre Rolle gar nicht kennen. „Ich möchte es aber so und so, bitte.“ – „Das ist hier nicht vorgesehen.“ Dann muss ich versuchen, mich in meine aufgezwungene Rolle hineinzudenken. Meist bin ich ein doofer Statist oder die ganze Rolle ist vollkommen unlogisch oder nach dem ausschließlichen Gusto der anderen Seite definiert, was ich sehr unfreundlich finde. „Sie können im ICE mit Kreditkarten zahlen, aber nicht mit der EC-Karte.“ Fragende Blicke prallen ab. Achseln werden gezuckt. Früher haben wir oft über mehrseitige Speisekarten in Ostländern gelächelt, wenn es dann davon immer nur Mixed Grill gab und sonst nichts. „Die verstehen den Kunden nicht“, sagten wir. Immerhin – die exzessiven Fälle spüren auch wir noch selbst.

Gunter Dueck

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