Der IQL ist wichtig, nicht der IQ! (Daily Dueck 85, März 2009)

Alle reden vom IQ, AQ, EQ – was weiß ich. Damit lässt sich in etwa feststellen, was jemand kann oder besser: könnte. Was aber wirklich zählt ist der IQL, der Internal Quality Level. Der zeigt an, wie gut man für sich selbst etwas machen muss, damit man zufrieden ist. Und noch wichtiger ist es, wie jemand mit seinem IQL mental über die Zeit umgeht. Aber das Licht der Aufmerksamkeit liegt immer auf dem IQ, was ich ziemlich unterbelichtet finde.

So oft hört man dies: „Er ist so gut in der Schule gewesen. Aber im Beruf bringt er wenig. Seltsam.“ – „Er ist hochbegabt und wurde vom Staat gefördert. Nichts ist draus geworden.“ – „In der Schule war sie eine Niete. Nun steht sie ganz oben.“
Als Professor für Mathematik sah ich im ersten Semester, wie alle Studienanfänger erwartungsfroh ankamen. Die meisten hatten eine sehr gute Abiturnote in Mathematik. Aber in wenigen Wochen schienen die meisten erschöpft und abgehängt – etwa die Hälfte verließ die Arena nach dem ersten Semester. Aber sie haben alle in etwa denselben IQ, oder nicht?

Ich glaube, es liegt am IQL. Der Internal Quality Level ist die innere Messlatte, die man in sich selbst hoch legt. Wenn die Messlatte niedriger ist, ist man auch mit Fehlern zufrieden. „Wenn ich eine Drei im Diktat habe, reicht mir das.“ Andere sehen das so: „Ich finde es selbstverständlich, alle Wörter richtig zu schreiben und ich bemühe mich darum sehr. Wenn ich doch einen Fehler begehe, schäme ich mich.“ In Mathe an der Uni: „Ich habe die leichteren Aufgaben dann doch ganz gut gekonnt, so dass ich sicher bin, die für den Übungsschein nötigen fünfzig Prozent zu erreichen. Bei den schweren Aufgaben hatte ich auch nach einer Stunde Nachdenken keine Idee, ich musste dann zum Gemeinschaftskochen und war am Abend zu müde. Hauptsache, ich bekomme den Schein.“ – Oder: „Ich hatte die Lösung der schweren Aufgabe fast vor Augen, aber es stimmte mehrmals nicht. Da packte mich der Ergeiz. Ich musste eigentlich zum gemeinsamen Kochen, aber ich nahm mir vor, eher einmal zu hungern als hier zu versagen. Ich biss mich durch. Ich schaffte es sogar noch zum Kochen, nur etwas später. Die Kunst ist wohl, nur an die Lösung zu denken und sich nicht durch andere Termine ablenken zu lassen. Ich bin einfach nicht zufrieden, wenn ich etwas halbfertig liegenlasse. Das kann ich nicht.“ – „Ich habe mit einiger Mühe immer so fünfzig Prozent geschafft. Ich wäre natürlich auch gerne so gut wie die Überflieger, aber die machen absolut nichts anderes als Mathe. Ich bewundere die eigentlich nicht. Sie sind wahrscheinlich begabt und arbeitssüchtig zugleich und kennen das Leben nicht.“

Die Studenten mit dem niedrigen IQL rechnen nie nach. Sie brauchen im Schnitt 16 Semester statt 10. Sie hören etliche Vorlesungen doppelt und müssen immer noch einmal für Wiederholungsklausuren lernen. Wenn man nachrechnet, wie viel sie gearbeitet haben und wie lange sie „lebten“, kommt eine schreckliche Bilanz heraus. Sie lesen vielleicht noch ungläubig meine Kolumne DD22 („Leichtes Leben mit Zwei Plus“), aber sie beharren darauf, dass sie besser zu leben verstehen als die Streber mit hohem IQL. Das hält sie davon ab, je über Ihren IQL nachzudenken.

Der IQ ist so etwas wie das Potential, was in uns steckt. Natürlich ist ein hoher IQ von Vorteil. Die große Frage aber ist, was wir mit unserem Potential anstellen. Heben wir es? Das hat etwas mit der Wirklichkeit zu tun, nicht mit der Möglichkeit. Die Mathe-Anfänger haben so etwa den gleichen IQ, aber ganz verschiedene IQL. Das wissen die mahnenden Lehrer von je her und predigen seit ewigen Zeiten in die Wüste hinein: „Wer ein hohes Potential hat, kommt bei den leichteren Aufgaben im Leben ohne Mühe davon. Aber irgendwann kommt ein Punkt, wo es Mühe kostet. Und da ist die Nagelprobe für einen Menschen. Müht er sich? Beißt er sich durch? Will er gewinnen, auch wo er nur geringe Chancen hat? An diesem Punkt scheiden sich Erfolg und Misserfolg. Potential ist gut, aber der IQL ist das Entscheidende.“
Deshalb werden Sie in den Bewerbungsgesprächen von erfahrenen Managern immer gefragt, wann es in Ihrem Leben schwer wurde und was Sie dann taten. Haben Sie so lange gearbeitet, bis Sie wieder auf Ihrem angestammten Zufriedenheitslevel waren? Oder haben Sie sich Minderleistungen in „Sondersituationen“ leicht verziehen, indem Sie sich mit der neuen Lage entschuldigt haben, bei anderen und sich selbst? Wie gehen Sie mit Fehlern und Enttäuschungen um?
Unerfahrene Manager fragen zu sehr nach den gezeigten Leistungen oder nach dem Potential. Dann stellen sie Leute ein, die bisher NUR immer gut waren. Aber was passiert mit denen, wenn es hagelt? Haben wir nicht ein Massensterben von Schönwettermanagern erlebt, als die Wirtschaftslage schlecht wurde? Warum haben wir nicht alle ein bisschen Angst vor den ganz makellosen Bewerbungsakten?

In der Uni, zu Hause und bei IBM gebe ich mir immer die größte Mühe, den IQL nach oben zu beeinflussen. Ich möchte, dass alle den IQL so ansetzen, dass jede Arbeit so ausgeführt wird, dass man in naivem Sinne stolz auf sie sein kann. Nicht relativ stolz zu anderen („Ich bin schlecht, aber noch ein Zehntel über dem Durchschnitt“) – nein – in naivem Sinne. Wer ein Instrument spielen will, soll in naivem Sinne gut klingende Musik spielen, nicht die Noten auswendig sägen. Wer im Sport gut sein will, soll siegen wollen, nicht unter ferner laufen zufrieden sein. Viele Erfahrene sagen: „Was auch immer du tust, tue es gut.“ Damit meinen sie „naiv gut“, von außen gesehen. Im Englischen: sound. Oder im Deutschen, wo mir kein Einzelwort dafür einfällt: Kerngesund, gerade, gut, ehrlich, vernünftig, sicher, solide, schmuck, korrekt, folgerichtig, tüchtig, gehörig, zuverlässig, kräftig, fest. Wer will, kann darüber hinaus ein Meister sein wollen, wofür es wiederum kein gutes englisches Wort gibt. Meister, nicht Geselle. Und die beispielhaft genannten Fehler im Diktat oder die fünfzig Prozent Übungspunkte sind eben naiv nicht in Ordnung und schon gar nicht meisterhaft.

Das Erziehen oder Management rund um den IQL ist eine der wichtigsten Aufgaben der Eltern, der Führungskraft oder eines Mentors. Kinder und Mitarbeiter sollen eine „sound personality“ werden. Wie das geht, ist bei verschiedenen Menschen ganz anders. Manche Kinder brauchen höhere Ziele und Lob („Fleiß“), andere müssen herausfordernde Momente meistern („Sieg“), wieder andere brauchen eine weite Vision („eine Marssonde bauen“ oder „Gott finden“). Also bringt man ihnen Stolz auf sich selbst bei („Disziplin“), hilft ihnen zu spüren, dass sie fast grenzenlose Möglichkeiten haben („sich selbst überwinden“), oder man erzeugt in ihnen die berühmte Sehnsucht nach dem weiten Meer („Saint-Exupéry“).
Und wenn sie weiter und weiter kommen, muss der IQL immer mitverändert werden. Das Streben und die Bewegung müssen bleiben! Der Stolz wird größer, die Grenzen weiter, die Sehnsucht stärker.
Die Kinder oder Mitarbeiter dürfen nur nicht blocken und sich fertig fühlen – niemals! Dann ist alles zu Ende.
Wenn sich jemand als fertige Persönlichkeit fühlt, ist sein IQL gefixt und lässt sich kaum mehr ändern. Sein IQL kann ja nur noch hoch gesetzt werden, wenn der Betreffende sich noch nicht fertig fühlt! Selbsternannte fertige Persönlichkeiten ändern sich nicht mehr. Ich habe es langsam aufgeben, fertige Menschen zu coachen. Es juckt mich trotzdem oft, fertige Menschen mit ganz niedrigem IQL und hohem IQ positiv zu führen. Sie haben ein hohes Potential, erwarten aber nichts Weiteres von sich selbst. Es endet praktisch immer mit Frust auf beiden Seiten.

Fertige Menschen sind fest wie ein Panzer. Man müsste eine Psychologie fertiger Menschen schreiben. Es gibt viele Meter Bücher über den Widerstand in der Psychologie: Psychisch Kranke weigern sich fast generell, die naive Außensicht auf ihr Leiden anzunehmen. Sie weigern sich mit Händen und Füßen, weil das Erkennen ihres Leidens für sie seelisch schlimmer ist als das ewige Verharren im Leiden. So etwas ganz Verhärtetes muss es auch in normal gesunden fertigen Menschen geben. Widerstand gegen alle Erkenntnis, dass noch etwas unfertig ist.
Sokrates weiß, dass er nichts weiß. In dem Kontext hier: Sokrates ist nicht fertig. Und das Wissen und positive Akzeptieren der eigenen Unfertigkeit gibt viel Raum zum Wachsen. Fertige Menschen aber sind erwachsen. Fertig! „Raum zum Wachsen“ hört sich für fertige Menschen an wie der scharfe amerikanische Tadel: „There is plenty of room for improvement.“ Vielleicht ist komplettes Erwachsensein oder die totale Normalität auch eine Art Persönlichkeitsstörung?

Neben den gepanzerten fertigen Menschen stehen die kaum in Frage gestellten fertigen Managementrezepte und Erziehungsregeln. Sie beseitigen die fertige Selbstzufriedenheit mit Strafen, Prügeln, Bestechungsversuchen („Incentives“), Herabsetzungen und „Man darf niemals zufrieden sein!“-Reden, die an der Panzerung der fertigen Menschen abprallen. Solche Maßnahmen zwingen fertige Menschen, mehr zu leisten als es ihr IQL von innen her verlangt. („Ich hatte im Geschäftsbrief drei winzige Fehler, er hat sich furchtbar aufgeregt. Ein Fehler ist doch nicht schlimm, oder? Jeder macht Fehler.“) Fertige Menschen, die über ihren IQL hinaus arbeiten, empfinden sich als vollkommen heroisch dabei – denn sie leisten bedeutend mehr als das „Menschen Mögliche“ und jammern, sie „würden auf Dauer mit Notstromaggregat laufen“, wodurch die Ausnahme zur Regel würde. Sie hassen alle diejenigen, die das ohne Zusatzbelohnung oder massenhaft kniend verabfolgtes Honiglob verlangen oder erzwingen: Das sind die Bosse. Das stärkt ihren Panzer und hält ihren alten IQL fest wie in Beton gegossen. Sie dürfen nie akzeptieren, dass sie nicht fertig sind und einen zu kleinen IQL haben, weil sie dann nicht mehr heroisch wären, sondern eher nur schlicht unfähig. So verharren sie unter Prügeln im Heroismus. Unrettbar wegen des Widerstandes gegen die Erkenntnis ihrer selbst.

Und das fertige Management ist glücklich und zufrieden mit dem Konzept, alle die fertigen Menschen über ihrem IQL arbeiten zu lassen. Fertige Manager sind glücklich, wenn alle unter Stress stehen und nach Atem ringen, wenn sie keine Zeit haben und hektisch agieren.
Ach ja, man kann zwar Menschen über ihrem IQL arbeiten lassen, aber nicht viel höher.

Gar nicht VIEL mehr!
Man könnte aber so irre viel mehr erreichen, wenn sie einen höheren IQL hätten. Alle.

Deutschland hat als Kultur einen ziemlich hohen IQL („Made in Germany“). Der scheint zu schwächeln. Hey, wir sollten von uns aus den Sternen entgegen gehen! Und nicht die leichte Tour versuchen – den Stern sinken zu lassen. Lebenslanges Lernen tut Not, das wissen wir alle! Aber wie machen das fertige lower IQL Menschen?

 

 

Gunter Dueck

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