Schwärmende Intelligenz in Gruppen (Daily Dueck 82, Januar 2009)

Für den Fall, dass es in einer Gruppe keinen Chef gibt, soll eine Gruppe als Ganzes angeblich mehr wissen als ein Einzelner. Das ist wohl eine Schwarmintelligenz. Die hilft gut, wenn kein Einzelner wirklich Ahnung hat, aber statistisch im Mittel die richtige Ahnung entsteht, indem sich die einzelnen Denkfehler insgesamt ausgleichen. Es kann eine „gesunde Volksmeinung“ herauskommen. Im Vertrauen auf dieses Phänomen des Ausgleichs zum Guten setzen sich oft Gruppen in völliger Ahnungslosigkeit zusammen. Unvorbereitet natürlich, aber mit festen Vorstellungen.

Eine Anekdote dazu. Ich saß als Mathematiker in einem damals noch üblichen externen Managementtraining dabei und habe mich nicht an der Diskussion beteiligt. Ich wollte nicht stören. Ich war so sehr fasziniert, wie sich eine Gruppendynamik entwickelt. Das Ganze ist wohl 20 Jahre her. Die Erinnerung ist immer noch frisch. Etwas überzeichnet war es so:

„Ich bin der Gruppenleiter. Ich soll eine Diskussion über eine Überlebensfrage leiten. Wir müssen uns jetzt künstlich vorstellen, wir stehen im Dschungel und eine sehr kühle Nacht bricht herein. Wilde Tiere warten auf das Dunkel, um uns anzugreifen. Uns droht der Tod, wenn wir nicht schnell ins Camp laufen. Leider ist die Batterie unserer Taschenlampe sehr schwach. Sie wird nicht mehr so lange Zeit leuchten, wie wir bis ins Camp brauchen. Wir müssen uns eine Strategie überlegen, wie wir davonkommen. Was tun wir? Hier auf dem Lösungsblatt sind verschiedene Möglichkeiten vorgeschlagen. Wir müssen uns also nichts neu ausdenken, sondern wir sollen nur zwischen angebotenen Alternativen wählen. Also: Wir können irre schnell mit Licht laufen, aber wir werden das wahrscheinlich zeitlich nicht schaffen, steht hier auf dem Blatt. Wir könnten die Taschenlampe schonen und immer ganz kurz anknipsen, dabei vor uns den Weg anschauen und uns nach vorne weitertasten, so weit wir kommen. Dann knipsen wir wieder kurz an. Als dritte Möglichkeit könnten wir den Schalter der Taschenlampe nur ein kleines Stück vorschieben, dass sie ein bisschen glimmt. Da sehen wir aber nur schlecht, und es ist nicht klar, ob die Taschenlampe das lange mitmacht. Ja, und dann kann man viertens die Taschenlampe eine Stunde unter den Achseln einklemmen oder zwischen die Beine. Das soll wohl gut sein, warum steht hier aber nicht. Sieht seltsam aus. Andere Rettungsmaßnahmen stehen nicht zur Verfügung. Ich bitte um Wortmeldungen.“

„Ich bin für Intervallanknipsen. Das sieht gut aus. Das denken wohl alle hier im Raum. Ich beantrage die Abstimmung darüber. Dann sind wir sofort fertig. Die anderen Diskussionsgruppen reden bestimmt viel länger darüber und unsere Gruppe bekommt Sonderpunkte für knackiges Entscheiden.“ – „Hören Sie. Es kann ganz anders sein. Wenn wir die zur Verfügung stehende Entscheidungszeit nicht ausschöpfen, wird man uns womöglich sorglosen Umgang mit einer Überlebensfrage vorwerfen. Diese Diskussion gehört zu einem Managementtraining. Es ist keine Profilierungsrunde. Ich bin dafür, dass wir sorgfältig vorgehen.“ – „Ich aber denke mir, es gibt keine richtige Antwort auf die Frage, das hatten wir schon öfter im Training. Sie wollen bestimmt nur wissen, wie gut wir über Blödsinn diskutieren. Das Überleben schafft man ja als Manager doch immer irgendwie, man muss nur gut führen.“ – „Man sollte vor allem auch zuhören können! Ich finde, wir sollten strukturiert vorgehen und nicht so drauflos reden. Jeder, der eine Überlebensidee hat, soll sich auf eine Rednerliste setzen lassen. Wir könnten zum Beispiel reihum fragen, was jeder dazu zu sagen hat, nicht nur die Wortführer hier. Ich beginne mit meiner eigenen Meinung. Ich finde, dass wir laufen sollten. Ich zum Beispiel bin wirklich gut in Sport, damit würde ich mich auf jeden Fall selbst retten.“ – „Das könnte Ihnen so passen. Und wir?“ – „Wenn die anderen Strategien zum Tod führen, soll ich da bei Ihnen bleiben? Es geht um das Überleben! Dafür habe ich mich jahrelang vorbereitet!“ – Tumult. „Halt! Halt! So geht das nicht! Ich muss als Teamleiter eingreifen. Ich denke, wir müssen erst abstimmen, ob wir alle überleben wollen oder nur manche. Ich denke, die Antwort ist klar: Alle.“ – „Ist sie nicht! Wir sollen doch in der letzten Trainingssession zeigen, dass wir auch Leute, die nicht performen, einfach rausschmeißen. Es könnte sein, dass wir das hier wieder zeigen sollen. Wenn man etwas zweimal in einer Übung zeigen muss, ist es bestimmt die beschlossene Strategie, die wir verstehen sollen.“

Dreißig Minuten später. „Ich möchte als Teamleiter darauf drängen, die Diskussion zu beenden. Nach den gegebenen Regeln sollen wir die Frage nach einer Stunde entscheiden. Die ist fast rum. Wir haben bisher nur über das Verfahren gestritten. Was machen wir aber konkret? Bitte bedenken Sie, dass Sie überleben wollen. Wir haben hier die besondere Situation, dass wir höchstselbst ohne Beschlussvorlagen von Fachleuten entscheiden müssen.“ – „Ich bleibe beim Glimmen.“ – „Ich bei Intervallschaltungen.“ – „Ich laufe.“ – „Okay, dann stimmen wir ab. Die Mehrheit gewinnt. Dann kann uns niemand etwas vorwerfen. He, was ist mit Ihnen los? Wollen Sie das nicht? Warum schauen Sie so drohend?“ – „Ich möchte auch etwas sagen, ich bin die ganze Zeit nicht zu Wort gekommen.“ – „Sie haben sich zwar die ganze Zeit gemeldet, aber Sie hätten dazwischenreden müssen, sonst gehören Sie einfach nicht in ein Managementtraining. Eine Führungskraft kommt nicht zu Wort, sie nimmt sich das Wort.“ – „Ich denke, Sie leiten die Diskussion hier in strukturierter Weise?“ – „Ja, aber ein bisschen müssen Sie sich schon selbst einbringen. Schüchterne Leute können wir im Training nicht gebrauchen, weil es um das Überleben geht, eigentlich ja um das unserer Firma. Dieses Überleben unserer Firma steht ja als Sinn hinter den ganzen Übungen hier, das dürfen wir nicht vergessen. Dazu müssen Sie aktiv sein und nicht erst mit dem Überleben anfangen, wenn Sie die Erlaubnis von mir bekommen.“ – „Darf ich einen Satz sagen?“ – „Nein, wir wollen abstimmen.“ – „Ich muss doch einen Satz sagen dürfen, verdammt.“ – „Das letzte Wort gibt Abzüge im Bericht. Also gut, einen Satz, damit der Bericht farbiger wird.“ – „Batterien leisten erheblich mehr, wenn sie eine höhere Temperatur haben. Wenn sie kalt werden, leisten sie wie Autobatterien im Winter nur wenig. Man muss sie also zwischen die Beine klemmen und anwärmen. Danach halten sie sehr viel länger, weil sie nun warm sind. Sie können dann mit den aufbereiteten Batterien ganz gemütlich ins Camp spazieren gehen, es ist eigentlich noch gar keine Gefahr da.“
„Haha, Sie Witzbold, Sie haben wohl Physik studiert?“ – „Ja.“ – „Wissen Sie denn so genau, wie lange eine Batterie im Dschungel hält?“ – „Nicht genau, aber ich kenne physikalische Prinzipien.“ – „Hören Sie, das ist ein Training. Die anderen Gruppen lachen uns aus, wenn wir mit so einem Vorschlag kommen. Ich glaube nicht, dass wir da Punkte gewinnen. Wir standen ja auch schon knapp vor der Abstimmung. Wir werden doch jetzt unter Eile nicht alles wieder mit Physikvorlesungen aufrollen.“ – „Ich werde gleich wütend. Das hier ist eine Wissensfrage! Und keine, die durch Abstimmung gelöst werden kann! Ich stehe hier und WEISS es! Warum hat niemand am Anfang der Übung gefragt, ob jemand hier im Team die Lösung WEISS? Warum diskutieren wir überhaupt?“ – „He, he, jetzt werden Sie aber ausfallend. Jeder darf im Meeting seine Meinung haben, auch Sie. Aber Sie können nicht einfach die Mehrheit brüskieren. Sie müssen für Ihre Meinung eine eigene Mehrheit gewinnen. Sie können nicht einfach etwas aus dem Hut ziehen, wovon wir nichts verstehen und annehmen, wir fallen Ihnen sofort um den Hals.“ – „Beim echten Überleben würden Sie das aber!“ – „Keineswegs. Wir stehen ja seit Jahren mit der Firma im Überlebenskampf. Wir haben noch nie im Meeting gefragt, ob einer die Wahrheit kennt. Eine einzige Wahrheit gibt es ja nach aller Erfahrung nicht. Und jeder Manager hat einen eigenen Stil. Und hier in der Übung ist es eine sehr gut mögliche Lösung, in Intervallen anzuknipsen, das erscheint mir sehr vernünftig.“ – „Oh nein, ich sagte, ich laufe.“ – „Ich glimme, ganz sicher.“ – „Ich möchte unterbrechen und als Teamleiter bitten, eine Entscheidung zu fällen. Die sechzig Minuten sind um.“ – „Dann noch einen Satz über triviale Physiker-Logik. Wir können einen Kompromiss eingehen. Wir erwärmen die Batterien zuerst an, dann sehen wir, ob es funktioniert, wie ich sage. Wenn es funktioniert, fein. Wenn ich nicht Recht habe und es nicht funktioniert, dürfen die anderen machen, was immer sie abstimmen!“ – „Jetzt werden Sie sehr spitzfindig. Sie sind schlau, was? Weil Sie etwas zu wissen glauben. Da werde ich auch einmal schlau: Die Aufgabe hier im Training war, exakt eine der Optionen zu wählen, nicht eine neue zu erdenken.“ – „Sie sind dumm!“ – „Bitte! Ich bitte Sie! Zur Ordnung! Ich als Teamleiter…“ – „Sie sind alle dumm!“ – „Als Teamleiter möchte ich vorschlagen, dass Sie sich mit dieser Äußerung disqualifizieren. Sie haben die Nerven verloren, weil Sie als einziger etwas wollen, woran wir anderen überhaupt nicht denken wollen. Ich denke, es ist jetzt gerecht, wenn wir als logische Folge nun Ihren Lösungsvorschlag nicht weiter diskutieren.“ – „Ja! Ja!“

Die Tür geht auf. „Ich als Obertrainer möchte nach den sechzig Minuten um Ihre Entscheidung bitten.“ – „Wir brauchen noch 10 Minuten. Geht das? Bisher haben wir nur die letzte Möglichkeit ausgeschieden, weil sie unwahrscheinlich ist.“ – „Gut. Sind alle dieser Meinung?“ – „Nein! Nein! Ich hier als einziger nicht! Ich finde, alle sind dumm. Man muss Batterien heizen.“ – „Warum hat die Gruppe das nicht entschieden?“ – „Sie ist als Gruppe dumm.“ – „Hören Sie, so geht das nicht. Sie dürfen nicht einfach etwas behaupten. Sie müssen Leadership zeigen und Ihre Gruppe so beeinflussen, dass sie mit Ihnen mitzieht. Sie müssen überzeugen.“ – „Nein, muss ich nicht. Wahrheit ist Wahrheit. Und ich WEISS die Antwort. Davor verlange ich Respekt.“ – „Den müssen Sie sich aber über Jahre erwerben, verstehen Sie nicht? Sie sind neu hier, die anderen kennen sich schon lange. Sie merken da doch, dass Sie diesen Respekt noch nicht haben?“ – „Bin ich gefeuert?“ – „Nein, nein, Sie sind wahrscheinlich eine gute Fachkraft und nur als Führungskraft nicht geeignet. Aber auch als solche müssen Sie darauf achten, was Sie wie wem sagen.“ – „Allen ungeschminkt die Wahrheit.“ – „Das ist aber gegen die Regel!“

Gunter Dueck

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