Links im Sinnraum
Im Wahnsinn würde alles enden, wenn wir nicht so wahnsinnig hofften (Daily Dueck 81, Januar 2009)
Was bringt das neue Jahr 2009? Eine Rezession, neue Finanzskandale. Aber wir sind vergleichsweise heiteren oder mindestens gelassenen Mutes. Es gibt noch genug Hoffnung.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man. Noch im wirklichen Tode tröstet
sie uns. Sie sitzt an unserem Sterbebett und streicht uns das Haar,
während der hagere Zwillingsbruder, die Angst, stumm an den Nägeln
kaut.
Die Angst und die Hoffnung sind immer bei uns. Die Angst will uns
hemmen, weil alles nichts helfen wird. Die Hoffnung hält uns
zuversichtlich und gibt uns Energie, die uns die Angst wiederum wegfressen
will. Die Hoffnung erwärmt, die Angst lässt uns kalt erstarren.
Die Hoffnung schöpft frische Luft, die Angst schnürt den
Hals ab.
Ohne Hoffnung ist wie der Tod. Ohne Angst droht dem Übermütigen höchste Gefahr. Wir brauchen sie beide! Aber unser Herz ist einmal voll von Hoffnung und ein andermal zerfleischt von der Angst. Im Übermut setzt es das Leben aufs Spiel oder alles Materielle aufs Börsenroulette. Dann kommt die Angst wieder, die dunkle, und zieht uns auf den Teppich und anschließend, weil der Schwung nach unten noch lange reicht, weit und weiter hinunter, Herz und Vermögen rauschen in den Keller. Dort wartet der Wahnsinn, aber genau dort keimt der Samen der neuen Hoffnung!
Oben rettet uns die Angst in der Höhenluft, aber sie wirft uns zu tief ins Verderben. Unten rettet uns die Hoffnung aus dem schmutzigen Eis, aber sie schwingt uns zu hoch empor.
Es ist eine große Kunst, um die Mitte zu wissen – immer
die Höhe des Teppichs zu kennen, immer im Guten und im Schlechten
die Erinnerung zu behalten, wo alles wahrhaft hingehört.
Diese Kunst oder Tugend ist eine von Platons Kardinaltugenden: Sophrosyne,
die Tugend der klugen Überlegung und Mäßigung.
Der Mensch soll nicht hungern und nicht fressen, nicht abstinent sein und nicht huren, nicht faul herumliegen und nicht workaholistisch hetzen, sich nicht ducken und sich nicht aufblasen. „Das ist nur schweres Gepäck auf dem Weg, so wissen die Weisen“, heißt es irgendwo sinngemäß im Tao Te King. Alle Seelenkrankheiten, die Depression, die Abhängigkeit, der Sadismus, der Narzissmus, die Hysterie und alle die anderen – sie alle sind Übertreibungen und eben nicht Sophrosyne. Das Übertriebene ist nicht der Weg, den wir gehen sollen.
Aber wir tun es. Wir sind magersüchtig oder tonnenfett, schämen
uns vor Spiegeln oder stellen uns öffentlich aus, wir sind eng
und geizig und verschwenden das Geld ohne Sinn. Hin und Her, auf und
ab, das pralle Leben, ohne rechten Sinn, aber mit viel Freude und
grässlichem Kummer. Das alles hat etwas von Wahnsinn an sich,
wenn wir da nicht immer noch die Hoffnung hätten. Sie ist der
gute Teil allen Wahnsinns.
Und auch ich habe meine Hoffnung. Dass alles besser wird. Dass alle
Menschen so gleichmäßig sein würden wie ich selbst
und Sophrosyne verehren. Aber in mir ist noch die Angst des Über-Ich,
unmäßig zu werden und in mir ist die Hoffnung des Es, einmal
doch alles Maß zu vergessen. Geht es denn nicht ganz ohne die
Angst und ganz ohne die Hoffnung? Einfach so?