Links im Sinnraum
Durch Mega-Rechenfehler zur Kreditkrise? (Daily Dueck 76, Oktober 2008)
„Wir haben uns verrechnet.“ So sagen sie doch alle, wenn sie sich verzockt haben? Ich aber werde die Vermutung nicht los, dass sie sich wirklich und wahrhaftig verrechnet haben. Ich habe auch eine Vorstellung, worin der Fehler bestehen könnte. Wenn ich Recht habe, bleibt mir aber ein bisschen der Atem stehen. Dann sind wir von Milchmädchen umgeben.
Es geht um die Bewertung von Risiken. Man kann jetzt lange diskutieren, was ein Risiko ist. Viele sehen es als Gefahr, dass etwas passiert. Die Mathematiker modellieren es oft als Varianz, also Ab-weichung vom Mittelwert. Risiko ist aus dieser Sicht die Schwankung oder Streuung um den Mittelwert. Risiko ist dann die Gefahr, dass es nicht normal läuft.
Ich glaube nun, dass die Banken auf das Gesetz der großen Zahl
setzen.
Das sieht in der Praxis so aus:
Angenommen, ich gebe hier in Waldhilsbach etlichen Leuten Kredite.
Manche arbeiten an der Uni, andere bei SAP, wieder andere bei MLP
oder am Max Planck Institut oder bei Tengelmann. Sie haben alle einzeln
gesehen verschiedene Risiken. Sie können arbeitslos werden, erkranken
oder Drillinge bekommen. Dann wackeln die Kredite. Sie können
auch erben, dann steigt die Sicherheit. Diese einzelnen Risiken muss
man bewerten und danach die Kreditwürdigkeit einstufen. Diese
Einstufung der Risiken erfolgt Person für Person nach Erfahrungstabellen.
Wenn ich zum Beispiel von der Sparkasse Heidelberg eingestuft werde,
hängt das von meinen eigenen Daten ab. Sie schauen aber natürlich
nicht nach, ob mein Nachbar kreditwürdig ist. Das interessiert
sie in meinem Falle nicht!
Mathematisch gesehen werden die Risiken der verschiedenen Personen
UNABHÄNGIG voneinander gesehen und eben auch unabhängig
voneinander bewertet. So machen das die Rating-Agenturen bestimmt
auch. Investmentzertifikat für Investmentzertifikat, Anleihe
für Anleihe kommen zum Bewerten herein. Nacheinander werden sie
eingestuft. Wenn zum Beispiel ein Ölzertifikat bewertet wird,
spielt es keine Rolle, welche Note vorher eine Australienanleihe bekommen
hat. Alles geht seinen geordneten Gang. Geschäftsvorfall für
Geschäftsvorfall wird nach Erfahrungstabellen abgearbeitet.
Die Erfahrung sagt, dass das Risiko eines Hauskredits in Asien mit der Arbeitslosigkeit eines Rechtsanwaltes in Neuseeland nichts zu tun hat. Man nimmt also implizit bei der Bewertungsarbeit an, dass diese Ereignisse nichts oder sehr wenig miteinander zu tun haben. In diesem Fall greift das Gesetz der großen Zahl. Es sagt: Die Ausmaße der schlechten Kredite oder die Größe des Gesamtrisikos über eine große Menge von Geschäftsvorfällen ist fast ganz, ganz sicher so groß wie man es nach den Tabellen erwarten kann. Wenn also nach aller Erfahrung bei einer Million Krediten nur 1 Prozent ausfällt, so ist es irre unwahrscheinlich, dass es vorkommt, dass sogar drei oder gar 5 Prozent ausfallen. Das sagt das Gesetz der großen Zahl. Man kann die Wahrscheinlichkeit eines Supergaus nach diesem mathematischen Satz gut berechnen. Es kommt meist heraus, dass ein Kapitalmarkt-Crash nur so alle Zehntausende oder Millionen Jahre vorkommen kann, wenn einmal ausnahmsweise alles schief läuft, was schief laufen kann. Und weil die Berechnungen das sagen, fühlen sich alle sehr, sehr sicher.
Leider aber kommen die Crashs nun alle fünf Jahre, oder? Nicht alle paar Millionen? Wie geht das zu?
Wenn sich die Ölpreise, die Rohstoffpreise und die Immobilienpreise extrem stark erhöhen und „eine extreme Blase“ bilden, wächst die Gefahr eines absolut allgemeinen Rückschlags. Das Risiko meines Hauskredites in Waldhilsbach hängt dabei gar nicht mehr von meinen persönlichen Daten und meinem Arbeitgeber IBM ab. Mein eigenes Risiko ist jetzt ganz klein gegen das allgemeine Risiko eines allgemeinen Platzens der Blase. Das Risiko meines Hauskredites ist also vielleicht zehnmal höher geworden, weil die Blase zu platzen droht. Weiß das die Bank? Ändert sie die Tabellen? Noch schlimmer: Mein Risiko und Ihr Risiko sind nicht mehr unabhängig. Wenn Sie und ich einen Kredit aufnehmen, haben wir beide als Personen einzeln gesehen ein geringes Risiko, aber wir haben zusätzlich beide das GEMEINSAME sehr hohe Risiko, dass die Blase platzt. Die Bank sitzt jetzt also nicht mehr auf einer Million Einzelrisiken, die sich nach dem Gesetz der großen Zahlen berechnen und beherrschen lassen, sondern sie sitzt vor allem nur noch auf dem einzigen Riesenrisiko, dass die Blase platzt. Dann nämlich sind alle Arbeitsplätze gleichzeitig gefährdet, die Hauspreise fallen gleichzeitig. Mein Haus und Ihr Haus, meine Arbeitslosigkeit und Ihre Arbeitslosigkeit hängen jetzt plötzlich zusammen! Wir werden wahrscheinlich beide gleichzeitig arbeitslos oder nicht! Die Blase packt uns mathematisch zusammen. Wir haben jetzt etwas miteinander zu tun, wo unsere beiden Leben sich vorher gar nicht berührten.
Ich will sagen: Bei Gefahr des Blasenplatzens ist das Blasenplatzrisiko
dominant gegenüber den Einzelbewertungen. Deshalb bedeutet es
in dieser Zeit nichts, wenn die Ratings-Agenturen für eine Bankanleihe
ein AAA vergeben. Das AAA wird für die Daten der Bank im NORMALFALL
vergeben, nicht für den Fall des Platzens der Blase. Die Rating-Agenturen
und die Kreditbearbeiter der Bank für Kunden arbeiten aber nur
an den Daten der Bank oder der Bankkunden! Akte für Akte, Kredit
für Kredit, Anleihe für Anleihe werden bearbeitet und eingestuft.
Wenn aber die Blase zu groß wird, berechnen auf diese Weise
alle nur einen winzigen Teil des Risikos.
Alles klar? Wenn die Blase zu platzen droht, gibt es kein Gesetz der großen Zahl mehr. Es gibt auch keine kleine Zahl mehr! Es geht nur noch um das Platzen oder das Nichtplatzen der Blase. Ja oder Nein. Das hat nichts mit meinen oder Ihren Bankdaten zu tun!
Aber die Banken und die Rating-Agenturen haben die Wahrscheinlichkeit eines Blasenplatzens nicht in den Rating-Tabellen stehen – das vermute ich. Ich vermute, dass sie weiter nach dem Gesetz der großen Zahlen arbeiten und deshalb gar keine großen Risiken finden. Das ist der Mega-Rechenfehler. Er entsteht aus einem Mega-Denkfehler. Oder dem Mega-nie-mehr neu-nachgedacht-Fehler.
Wenn die Blase platzt, ist nichts mehr sicher! Meine Firma IBM hat
mitten in der Krise den Gewinn gesteigert, sie ist ein Fels in der
Brandung und so etwas wie AAA. Klar? Aber die Aktien sind auf 75 Prozent
gefallen. Warum? Auch das ist sonnenklar: Alles andere ist noch viel
stärker gefallen. AAA bedeutet also nur, dass die „Personaldaten“
von IBM völlig okay sind. AAA bedeutet nicht, dass die Aktien
von IBM nicht fallen können. Das liegt daran, dass AAA nur die
„Personaldaten“ anschaut, aber nicht den Schaden durch
das Platzen der Blase.
Das aber hat kaum einer gewusst, oder? Da hat keiner hingeschaut!
Wahrscheinlich dachten auch Sie, dass AAA-Papiere nie fallen! Sie
haben damit aber nur das Einzelrisiko bewertet bekommen. Die Gefahr
des Blasenplatzens war nicht eingerechnet.
Was sagt das alles? Keiner denkt nach. Die Sachbearbeiter schauen
in Tabellen, in denen die Erfahrungen der Normalfälle verzeichnet
sind. Wenn man sie jetzt anstubst, dass sie nur das Normale bewerten,
aber nicht das große Risiko, werden sie wahrscheinlich sagen:
„Dazu kann ich nichts. Diese Zeit ist wirklich absurd unnormal.
Da kann ich keine Risiken schätzen, weil die Tabellen nur normal
sind.“
Das Bewerten von Risiken erscheint vor mir im Bild wie ein Raumfahrer
am Mega-Kursberechnungscomputer in einem Megaraumschiff. Der Rechner
surrt und spuckt geniale Meteoritenumschiffungsrouten aus. Der Raumfahrer
gibt alle Daten und Vorschläge zufrieden zur automatischen Reise
frei. Hinter ihm und auch schon über ihm aber tropft der weiße
Schaum aus dem Maule eines Aliens.
Es ist nicht Gier! Es ist gedankenloses freudiges Weiterarbeiten
wie immer. Sie sollen das Unnormale vorhersagen und nehmen dazu normale
Tabellen.
Das ist mega-schlimm und gibt den Giga-Flopp.