Dr. med. Simpel ohne jede Praxis (Daily Dueck 75, Oktober 2008)

In den USA gibt es schon die Minuteclinic. Wir gehen demnächst zum Doktor im Tengelmann. Der hat im Wesentlichen nur den Rezeptblock dabei und nimmt Bargeld. „You’re sick. We’re quick.“ Es gibt gerade ein Sonderangebot – Zeckenbilligimpfung. Es sticht mich, das für diesen Preis machen zu lassen.

Ich habe Ohrenschmerzen. Ich glaube, ich habe noch ein sieben Jahre altes Fläschchen mit Otobacid im Keller. Ich finde es nicht. Ich weiß genau, dass es verschreibungspflichtig ist. So ein Mist. Zur Apotheke würde ich ja gehen, aber zum Arzt? Bekomme ich da einen Termin? Muss ich zwei Tage Urlaub nehmen? Ich bin privat versichert, da muss ich alles selbst zahlen, sonst verliere ich den Schadenfreiheitsrabatt. Wäre ich in der Kasse, müsste ich dem Arzt ein Begrüßungsgeld bezahlen. Alles wegen 5 Euro Tropfen, ich armer Tropf. Wenn ich Pech habe, schwatzt er mich noch 10 Minuten zu, ich soll erst was Biologisches einträufeln, nicht Otobacid. Dann aber brauche ja deswegen nicht zum Arzt. Also, ich sage Ihnen, da macht man etwas mit! Warum kann der Apotheker das nicht entscheiden, hat der nicht auch so lange studiert, bis er Vaters Geschäft übernehmen konnte? Wir sind es alle so sehr satt, diese blöden Trivialfälle von mehreren Akademikern durchkauen zu lassen, die uns dann noch in den Ohren liegen, uns gesund zu verhalten. „Wie kam es zu den Ohrenschmerzen?“ – „Herr Doktor, ich habe für eine halbe Stunde mal keine Musik mit Ohrknöpfen bei der Arbeit hören können, weil diesen Monat der Chef da war. Da habe ich meine Ohren auf Durchzug gestellt und prompt Zug bekommen.“ – „Wollen Sie nicht einmal die Musik lassen und sich bemühen, wenigstens eine Stunde am Tag nicht …“ – „Bekomme ich jetzt Otobacid?“ – „Ich habe hier ein ganz neues Mittel, das ich an Ihnen testen möchte. Es ist sehr teuer, weil es ungefähr ein Prozent neuer ist als alles andere auf dem Markt und wir als Ärzte deshalb noch schöne Geschenke von Pharmaberatern bekommen.“

Es gibt für das Problem eine gute betriebswirtschaftliche Lösung, nämlich einen Dr. Simpel im ALDI. Für alles Triviale hilft er in einer Minute. Dazu braucht er keine Praxis und keine teuren Apparate. Für mich ist es einfach. Ich gehe rein, stehe wie noch einmal an der Kasse, bekomme mein Rezept, am besten gleich noch das Medikament gleich gegen Cash. Das ist alles gesetzlich noch nicht erlaubt, aber ökonomisch wäre es sinnvoll und bequem. Wenn es Zecken gibt, wird 24 Stunden zum Sonderpreis durchgeimpft, so wie Winterreifenwechsel billig bei Schnee. Wir beobachten die Angebote der Woche. Mittwochs ist Akne-Tag, wozu ein Akne-Experte kommt. Mittwochs gibt es auch immer Frischfisch im Markt. Donnerstags gibt es wechselnd Eintopf, daneben der herumreisende Fußpilzexperte. Ärzte werden wieder die Quacksalber und Pillendreher von einst? „Heute Mundhygiene und Zungenpiercings für 19.99 Euro!“

Und irgendwie wird das so kommen: Der Sekundendoktor auch hier. Erst vor einigen Jahren fing man in den USA mit der Minuteclinic an, jetzt sind es 500, vielleicht 700 am Jahresende. Wie McDocs schießen sie aus den Ladenperipherien. Das habe ich gerade in der Zeitung gelesen. Die Post ist schon bei ALDI, warum nicht auch der Arzt? Der Steuerberater, der mir kurz sagt, dass ich den mitgebrachten Beleg vergessen kann?

Ich habe ein ganzes ätzendes Buch über diesen Gedanken geschrieben (Lean Brain Management). Man spaltet die neunzig Prozent Routine vom Schwierigen ab. Die neunzig Prozent Routine lässt man von Unterbezahlten erledigen. Das Schwierige von Überbezahlten. Die Unterbezahlten bekommen so wenig Geld, dass sie ihr ganzes Leben nur im unterbezahlten Bereich bleiben müssen, insbesondere dürfen sie keinerlei schwierige Krankheiten bekommen. Stellen Sie sich vor, neunzig Prozent der Menschen verdienen fast nichts, zehn Prozent ziemlich viel. Da könnte es kommen, dass die Krankenversorgung inklusive schwieriger Krankheiten teurer ist als der Lohn der Unterbezahlten. So wie die Miete heute schon höher ist als ebendieser Minilohn.
Das habe ich alles schon vor Jahren im Buch kommen sehen – und mich fröstelt es immer mehr. Ich schrieb eine Realsatire, und die Satire blättert immer mehr ab.

Gunter Dueck

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