Links im Sinnraum
Was ist noch neu? (Daily Dueck 74, September 2008)
Sie haben eine neue Idee, eine Erfindung oder den genialen wissenschaftlichen Einfall? Dann googlen Sie erst einmal, ob es das schon gibt. Meistens irgendwie schon, aber nicht genauso. Es bleibt das schale Gefühl, nichts ist richtig neu. Die Leute lügen ja auch und behaupten, was sie irgendwann zu wissen glauben. Wer blickt da noch durch?
Wir ersticken in Informationen, so hört man allerorten. Im
Grunde ist es doch toll, Google zu haben und alles sofort zu erfahren.
Aber wenn Sie zum Beispiel Forscher oder Erfinder sind und eine neue
Idee haben: Ist die noch neu? Da werden Sie beim Googlen ganz freudlos.
Oder beim Patentanmelden! Früher wurde eine Idee patentiert,
wenn die Anwälte in der eigenen Firma oder die im Patentamt noch
nie etwas davon gehört haben. Nun aber gibt es Datenbanken über
Erfindungen und das ganze Internet dazu. Die Patentbearbeiter geben
ein paar Suchbegriffe ein und schwupp – da kommen 57 so ähnliche
Erfindungsideen herbei.
„Wir haben recherchiert und folgende andere Erfindungen gefunden,
die etwas mit Ihrer Idee zu tun haben könnten. Bitte geben Sie
eine Stellungnahme ab, in wie weit Ihre Idee die anderen signifikant
überragt.“ Da bricht man innerlich zusammen. Die Stellungnahme
ist wohl arbeitsreicher als das Erfinden selbst.
Wie stellt man fest, ob eine eingereichte Doktorarbeit wirklich neu
ist? Kennt sich jemand noch aus, wenn sich die Arbeit nicht auf ein
winziges esoterisches Gebiet beschränkt? Aber auch da könnte
es sein, dass da einige Spezialgrübler übersehen haben,
dass es in Asien eine andere Arbeitsgruppe gibt? Zunehmend werden
Doktorarbeiten auch mit Google-Stichprobeneingaben überprüft.
Das Abschreiben beginnt. Ja, sogar bei der Dissertation kann man sich
schon mit dem Abkupfern begnügen!
Und dann ist da der zunehmende Marketingzwang der Forscher. Sie beginnen schon einmal zu be-haupten, was sie noch erforschen wollen. Das müssen sie sogar, um Forschungsmittel zugeteilt zu bekommen. Deshalb werden Skizzen von Ideen mit vorgestellten Forschungen abgeliefert. Was sind Märchen, was ist real? Noch schlimmer: Es werden wegen besserer Zuteilungschancen von Geldern Forschungsthemen gewählt, die besonders hype und interdisziplinär angelegt sind. „Zum ersten Mal wird eine Brücke zwischen der Nanotechnologie und dem Wasserverbrauch in den unteren Schichten geschlagen – unter besonderer Berücksichtigung der Baumgesundheit von 1987 bis 1997.“
Die Ideen sind nicht mehr rein und einfach. Sie werden komplex gemacht, damit sie eigentlich nicht verglichen werden können. Dann sind sie eben NEU. Alles ist dann neu oder auch nichts. Die Forschung geht den Weg der Industrien. Handyverträge mit Handy sind alle neu und unvergleichbar. Die Investmentzertifikate können nicht verglichen werden, die Versicherungstarife nicht und die Qualität von Textilien. Alles ist auf Eindruckschinden bedacht. Und das geschieht nun auch im Wissensbereich. Als ich im Jahre 1975 in der Angewandten Mathematik zu forschen begann, hatte ich ein bisschen den Geruch eines Flüchtlings oder Dünnbrettbohrers, der schnell in einem neuen Gebiet Offensichtliches ohne Anstrengung als Stein der Weisen hinstellt. „Pfui!“, sagten manche. „Dort ist es leicht!“ Aber wir wollten doch nur Wertvolles für Anwendungen finden! Was damals noch ein Gedanke der Notwendigkeit war, pervertierte langsam zu einer fieberhaften Suche nach „fancy Themen“, für die es Gelder gab. Neues um des Neuen und des Geldes willen. Mit solchen Strategien lässt sich mühelos das Wissen jährlich verdoppeln, ohne etwas zu nutzen.
Und immer besorgniserregender stellen wir uns die Frage:
Was ist noch neu? Was ist noch wahr? Was ist redlich?