Links im Sinnraum
Mist, nur Silber! (Daily Dueck 72, August 2008)
Siegen wollen! Nicht siegen müssen! Nach den Sternen greifen, nicht Karriere machen! Den Oscar gewinnen, nicht Nominierungen anstreben! Verrückt geworden – warum denn gleich so hoch hinaus? Wer ganz oben sein will, muss etwas erschaffen. Für Silber reicht nachmachen. Deshalb sage ich: Gold so unendlich viel schöner anzustreben als Silber, selbst wenn Sie nie eine Medaille erreichen. Auf Goldkurs sein ist das Schöne an sich.
Wer etwas nach Träumen erschafft, ist glücklich dabei und gewinnt manchmal alles, mal auch wie van Gogh nichts. Das ist wunderschön, aber „high risk“. Die anderen orientieren sich nach einem voraus-geeilten Genie, das neue Regel aus der Natur oder von Gott empfängt, wie man seit Immanuel Kant spekuliert. Die anderen ahmen nach. Sie betreiben „in fake of excellence“ oder „benchmarking“ oder „quick adaption“.
Bei IBM trug neulich ein junger Mann vor, der sich als Junge bis in die Spitze der regionalen Meisterschaften geschwommen hatte, da ereilte ihn ein Unglück. Man musste ihm ein Bein amputieren. Der Vater meldete ihn noch vor der Operation für die Para-Olympics-Laufbahn an, damit sein Leben weitergehen würde. „Welche Behinderung hat Ihr Sohn denn?“ – „Ich weiß es noch nicht, mindestens ein Bein wird fehlen.“ Der verzweifelte Junge übte mit einem Bein wie um sein Leben und schwamm zwei Jahre später schneller (!) als jemals zuvor als Gesunder. Er gewann tatsächlich Medaillen, stellte eine Staffel auf, aber es wurde nur Silber. NUR Silber. Er war enttäuscht. Er hatte sich wegen seiner Behinderung den Schwimmsport ganz neu erfinden müssen. Er grübelte, was das Team hätte besser machen können. Er kam nicht darauf. Später fiel ihm ein Foto der Staffel nach dem Wettkampf in die Hände, wo sie ja verloren hatten. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er selbst und ein anderer Kamerad schauten leer in die Kamera, die beiden anderen mit hüpfend glücklichen Augen wie am schönsten Tag ihres Lebens. Da wusste er, woran es lag. Er suchte zwei andere, die vom perfekten Sport träumten und gewann vier Jahre später (schon ziemlich alt) das Gold.
Gold hat etwas mit Sehnsucht zu tun, mit Unendlichkeit, mit Persönlichkeit.
Kein Kompromiss! Die ganze Seele geht darin auf.
Ab und zu lese ich in meinem Musashi-Buch. Das Buch der fünf
Ringe. Miyamoto Musashi war der berühmteste Schwertkämpfer
im klassischen Japan, er überstand viele Kämpfe auf Leben
und Tod, beendete seine Kampfkunstlaufbahn im meinem jetzigen Alter
(!) und schrieb ein Buch über die Kampfkunst, kurz bevor er starb.
Ich halte das Buch fast heilig und habe mir leider die Zitate nicht
angestrichen, da schreibe ich es eben so, wie es sich in mich eingeprägt
hat.
„Fast alle achten beim Kampf auf Leben und Tod auf die richtige Schwertführung und die Stellung des Körpers und der Füße. Sie versuchen, alles richtig zu machen. Das ist falsch.“
„Gehe hinaus und töte.“
„Töte mit einem Hieb.“
Das klingt sehr martialisch, ich weiß. Es besagt, dass Siegen nicht bedeutet, alles richtig zu machen. Es bedeutet einfach TUN. Musashi hat die Kunst so sehr verinnerlicht, dass es nicht mehr um Regeln geht. Er ist seine eigene Kunst selbst geworden.
Und diese Sätze, die so oder so ähnlich im Buch stehen, stehen in mir:
„Übe Deine Kunst, als solltest Du sie selbst erfinden.“
„Tu es alles so, als wenn es keiner sonst kann.“
„Es genügt nicht, dies zu lesen, man muss so hart üben, als würde man diese Lehre selbst entwickeln wollen und nicht einfach übertragen bekommen.“
„Man übe so beharrlich, als sei man selbst verantwortlich für die Entdeckung des wahren Weges.“
„Man vermeide bloßes Nachahmen und mittelmäßiges Üben.“
Dieses persönliche Für-sich-selbst-neu-Erfinden wird nicht mehr gelehrt oder gepriesen. Herzblut, Liebe zur eigenen persönlichen Kunst und Wille haben nicht genug Stellenwert. Wir bewundern Sie als Ausstrahlung oder Charisma, als Originalität oder Genie, aber wir wissen nicht mehr genau, wo es herkommt. Daher:
Jeder von uns ist selbst verantwortlich für die Entdeckung des
wahren Weges.