Die deutsche Zerrissenheit, der deutsche Doppelbrave und ein Sturm auf die klassische Erziehung (Daily Dueck 71, August 2008)

Eine zu frühe Erziehung zur Pflicht zerreißt den Menschen später – so behaupte ich. Wir prägen das Kind, bevor es verstehen kann. Dann geben wir ihm dasselbe noch einmal zu verstehen. Folglich ist es jetzt doppelt erzogen mit denselben Werten. Wehe aber, wenn sich das zu Verstehende später ändert – dann ist das Geprägte noch da und rebelliert. Wenn es stimmt, was ich vermute, vermurksen wir gerade die braven Kinder bei der Erziehung ganz schön. Gerade die, die nicht erzogen werden müssten. Die braven Deutschen, die dann zerrissen sind, gehemmt und ängstlich.

Mir ist einmal ein Buch über typische EEG-Grafiken in die Hände gefallen. Da war von langen Delta-Wellen die Rede, von nicht so ganz langen Theta-Wellen, von normalen Alpha-Wellen und den schnellen Beta-Wellen. Beim Erwachsenen kommen Delta-Wellen nur kurz im Tiefschlaf und bei Nahtoderfahrungen vor („Alles war Licht! Die Welt war ich!“). Theta-Wellen sind solche der Konzentration, der Hingabe oder der Meditation. Alphawellen beherrschen unser normales entspanntes Leben, Beta-Wellen zeigen wir unter Stress.
Na gut, ist eben so, dachte ich. Ich stöhnte dann erkenntnissatt über manches an meinem Arbeitsplatz, weil ich ja ganz offenbar Theta-Wellen zum Arbeiten brauche, aber die Störungen bringen mich „raus“, in Beta wie Stress. Ach ja, jetzt wusste ich, dass ich mit allem Recht habe, was ich über Hingabe und Stille empfinde. Aber ich bekomme nicht Recht, weil die anderen in anderen Wellenlängen arbeiten.
Was mich aber total erschrecken ließ, waren die Angaben im Buch, dass Säuglinge bis etwa 18 Monate vorherrschend Delta-Wellen im Hirn haben, die bei Erwachsenen nicht mehr willentlich vorkommen. Bis etwa ins Alter von fünf Jahren haben Kinder ein Theta-EEG, danach bis etwa 15-20 ein Alpha-EEG. Dann beginnt der Stress des Lebens, bei Annäherung ans Rentenalter sind Alpha-Profile normal („Opa ist viel relaxter als du, Papa!“).

Stellen Sie sich vor, dass ein Säugling im Delta-Profil ÜBERHAUPT anders fühlt und denkt als wir! „Alles ist Licht. Alles ist Mama und Wärme.“ Zu dieser Zeit aber bekommt es schon lange Zeit Erziehungssignale: „Pass auf. Kleckere nicht. Fass nichts an. Nein, Pfui. Weg da. Heiß! Nerv nicht. Schlaf durch. Patsch auf die Hand. Strafe muss sein. Weine nicht, kleine Eva. Jetzt kein Essen. Pfui, ein Stinker. Wieder alles voll, oh Gott. Wann das wohl aufhört. Sag Mama! Hörst du! Das Gläschen wird leer gegessen, es hält sich nicht länger. Du isst, was ich mache, es ist gesund. Weg von der Treppe. Nicht schreien, es ist Mittag.“
Eine Mutter oder ein Vater mit Beta-Wellen-EEG redet so mit dem Kind im Delta-Wellen-EEG. Das Kind versteht nicht, weil es nicht sprechen kann. Es wird geprägt, nicht erzogen. Später, mit zwei Jahren, spricht es und versteht unter Theta-Wellen. Dann aber ist es voll geprägt und hat keinen bewussten Zugang mehr zu dem, was vorher geschah. Psychologen nennen es unterbewusst – es ist in einen Körper hineingedrückt worden, der es gedanklich nicht verarbeiten konnte und es ist unmöglich, es später gedanklich und sprachlich zu verarbeiten. Es ist in Fleisch und Blut übergegangen und kann mit dem Verstand nicht mehr erreicht werden.

Brave Kinder sind solche, deren Prägung leicht gelingt und schön fest ist. Die wilden Kinder lassen sich nicht gut prägen und müssen noch lange erzogen werden.
Stellen Sie sich jetzt ein braves, stark geprägtes Kind vor. Es macht alles richtig und wird immer gelobt. Wenn es in den Kindergarten kommt, bekommt es dieselben Werte des Daseins und der deutschen Pflicht nochmals über den Verstand eingetrichtert. Es ist jetzt doppelt indoktriniert, einmal über Prägung und einmal über Erziehung.

Schauen wir weiter in die Zukunft des Kindes. Es soll im elften Schuljahr sechs Wochen in die USA oder in der Vorlesung den Professor etwas fragen. Es soll jetzt nicht einseitig brav sein, sondern weiterkommen und selbstständig werden.
Wir sagen ihm also: Jetzt geh hinaus und wage. Trau dich. Sei selbstbewusst!

Das versteht es gut, weil es brav ist. Es wird versuchen, alles ganz genau so zu tun. Aber es kann nicht. Die starke Prägung ist übermächtig. Sie sagt ohne Worte im Bauch: „Pass auf. Sei vorsichtig. Woanders ist es gefährlich. Wage nichts. Bleib zu Hause. Frage nicht. Sage nichts den Nachbarn weiter. Schweige. Sei nicht laut.“

Wenn also der doppelbrave Deutsche vom Verstand her die Bravheit aufgeben will und muss, weil er erwachsen ist und raus muss, dann hält ihn die Prägung zurück. Der Doppelbrave spaltet sich und ist zerrissen. Er wirkt gehemmt und unschlüssig. Er zögert und geht nur dorthin, wo alles sicher ist. Die wilden Kinder, die weder geprägt noch sich zuviel erziehen ließen, werden nun gesetzte Erwachsene und schaffen was im Beruf, sind weiterhin lebhaft, konfliktfähig und haben Kontakte …

Stellen Sie sich vor, das alles wäre wahr, dass nämlich Deutsche oft Doppelbrave sind. (Wenn Sie sich das nicht vorstellen können, sehen Sie sich noch die EEGs in meinem Buch Topothesie an oder schauen Sie in Artikel im Buch Panopticon.). Dann stimmt mit unserer frühkindlichen Erziehung nichts.
Sie ist nicht darauf ausgerichtet, Kinder hirngerecht zu behandeln. Es wird ja noch schlimmer: Man will im Kindergarten Fremdsprachen lehren! Fremdsprachen lernt ein Kind im Theta-Wellenbereich wahrscheinlich schnell einfach so, ABER nicht mit Vokabeltraining wie in der Schule, weil das Vokabellernen wahrscheinlich erst im Alpha-Wellenbereich funktioniert (wo das Kind in etwa weiß, was ein Gedächtnis ist oder eine „Festplatte“).
Müssen wir nicht verschiedene Erziehungen und Pädagogiken für verschiedene Wellenlängen haben? Wenn es so wäre, wie grausam sind wir jetzt mit vielen Kindern? Zumindest mit den Doppelbraven, die dann nicht aus ihrer geprägten Haut können?

(Ich habe es mit Medizinern diskutiert, die sagen aber, EEGs sind für Erkennung von Krankheiten, nichts zur Erkenntnis des Seins. Ich muss also einräumen, nicht die Koryphäe an dieser Stelle zu sein. Aber ich nehme mir bei der Gefahr die Freiheit, schon „Feuer!“ zu schreien, obwohl die Luft nur sehr heiß ist und es stinkt.)

(Dieses DD ist auch als Zusatz zum DD68 „Der Zorn des Deutschen darf Jammer nur sein“ zu sehen. Ich bekam Leserbriefe, dass ich wohl die Erziehung zur Ordnung schlecht machen wolle. Ordnung müsse doch sein, sonst breche Anarchie aus. Da versprach ich, es besser zu erklären. Ich will nicht das Brave abschaffen, sondern das uns zerreißende Doppelbrave. Einfach reicht und zerstört uns nicht.)

Gunter Dueck

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