Links im Sinnraum
Kunde und Überkunde (Daily Dueck 69, Juli 2008)
Wissen Sie, was ein Übermensch ist? Nietzsche hat ihn bejubelt. Shaw aber zeigt in seiner Komödie Mensch und Übermensch (Man and Superman) völlig realistisch auf, dass eigentlich die Frau den Mann indirekt beherrscht. Mann und Übermann – die Frau übermannt. Darüber lachen wir alle herzlich, weil es ja nicht in jedem Einzelfall stimmt. Derweil inszenieren die Unternehmen eine analoge Tragikomödie mit dem Titel Der Kunde ist König. Es wird dabei verschwiegen oder übersehen, dass es den Überkunden gibt. Diesem gehüteten Geheimnis gehen wir jetzt auf den Grund.
Ein Kunde ist ein Wesen, das Geld für eine Leistung bezahlt und durch eine dem Preis entsprechende Leistung zufrieden gestellt werden muss. Wenn dies nicht geschieht, „laufen die Kunden in Scharen davon“, wie es so schön heißt. Der Kunde hat in der Regel die Wahl. Das macht ihn stark, wenn er auf Leistung besteht. Ein guter großer Kunde hat mehr Macht, auf Leistungserfüllung zu pochen. Ein kleiner Kunde wird oft verachtet: „Geh doch woanders hin, bei dir setzen wir eher zu.“
Es gibt aber noch andere Kunden. Es sind solche, die einem Unternehmen Geld dafür bezahlen, dass das Unternehmen ihnen eine Dividende erwirtschaftet. Es sind die Aktionäre oder Shareholder. Sie zahlen ein Quantum Eigenkapital ein und bekommen dafür eine Eigenkapitalrendite. Sie sind genauso erpicht auf hohe Gegenleistung wie die normalen Kunden.
Das Unternehmen muss beide Kunden zufrieden stellen. Normale naive Vernunft erkennt, dass zufriedene Kunden auf der Nachfrageseite sehr viel Gewinn bringen. Dadurch ist das Unternehmen in der Lage, den Kunden auf der Aktionärsseite eine hohe Rendite zu liefern. Gutes Arbeiten bringt in diesem naiven Sinne Segen für alle – für den Kunden UND den Aktionär. Achten Sie auf das Wort UND? Das ist wichtiger als Sie vielleicht ahnen.
In den letzten Jahren ist in der Betriebswirtschaftslehre, bei den
Beratern und im Management irgendwie der Unverstand ausgebrochen.
Die gradlinige Wahrheit hat sich verkrümmt. Irgendwer hat die
Irrlehre aufgebracht, dass ein Unternehmen einen bestimmten Gesamtnutzen
erbringt, der unter den Kunden, Mitarbeitern und Aktionären AUFGETEILT
werden muss. Aber wie? Wer bekommt denn einen wie großen Share,
wie viel Leistung bekommt der Kunde, wie viel der Aktionär? Die
Unternehmensleistung bekommt der Kunde ODER der Aktionär.
Aus dem ursprünglichen UND ist heimlich ein ODER geworden. Du
ODER Ich! Rendite ODER gute Produkte. Die Logik der verblendeten Gier
konstruiert ein Gegeneinander, was eigentlich ein Miteinander ist.
Nun versuchen die gierigen Aktionäre, Rendite AUF KOSTEN der
Kunden zu erzielen, nicht als Nebenprodukt guter Arbeit.
Die Aktionäre fingen mit dieser Unlogik an. Sie setzten das Top-Management unter Druck, mehr Rendite zu erzielen, indem sie das Erzielen von Rendite zum alleinigen Zweck des Unternehmens erklärten. „Shareholder-Value“ wurde mit „Ich will möglichst alles“ gleichgesetzt. Die Aktionäre brachten es dahin, dass die anderen Kunden, die früher die eigentlichen Kunden waren, entmachtet wurden. Die Aktionäre wurden zum Überkunden, weil sie das Top-Management auf ihre Seite brachten, indem sie es durch Höchstgehälter quasi bestachen. Das Top-Management wurde nun zum Diener des Überkunden, während nur noch das übrige Unternehmen für den ursprünglichen Kunden arbeitete. Das Top-Management bildete eine Art Wasserscheide oder Ertragsscheide. Die Aktionäre über dem Top-Management wollten „alles“ und die anderen Unternehmensteile forderten „alles“ für den Kunden. Das Top-Management stand jetzt in einer andauernden Zerreißprobe. Nach oben diente man dem Überkunden, nach unten dem Kunden.
Die Überkunden waren nicht damit zufrieden. Sie setzten nach, weil sie Erfolg hatten. Sie erzwangen Quartals- und später Monatsberichte, stellten unbotsames Top-Management an den Pranger. Das gestresste Top-Management ächzte schwer und zwang nun zur Entlastung die zweite Führungsebene, die nächste von oben, ebenfalls zum Diener des Überkunden zu werden. Dadurch verschob sich die Ertragsscheide nach unten. Das Top-Management war nun nicht mehr zerrissen. Es stand ganz im Dienst der Shareholder. Es forderte nun das mittlere Management auf, ebenfalls für Rendite zu arbeiten. Jetzt war das Mittelmanagement innerlich zerrissen. Nach oben sollte es Rendite erzielen, nach unten den Kunden zufrieden stellen. Die Unternehmenskommunikation war innerlich zerrissen. Früher hatte sie das Image beim Kunden hochgehalten und laut über tolle Produkte die Trommeln gerührt. Nun aber wollten die Shareholder auch gute Nachrichten für sich sehen: Entlassungen, Gehaltskürzungen, Stress, Sparen – und bitte nicht: „Wir arbeiten unter hohen Kosten an einer Verbesserung im Sinne des Kunden.“ Die Unternehmenskommunikation arbeitete schon immer in der Nähe des Top-Managements und knickte ein. Sie verbessert heute fast nur noch das Image beim Überkunden.
Heute werben die Marketingleute mit den hohen Gewinnen beim Überkunden. Sie protzen, wie erfolgreich das Unternehmen ist und wie stark es wachsen wird. Unternehemn prahlen mit ihrer Strategie, die Besten zu werden. Sie imponieren mit Pluszeichen und Marktschlachten. Das ist so stark umgeschlagen, dass selbst den normalen Kunden, die Produkte kaufen, eigentlich nur noch erklärt wird, wie toll das Unternehmen im Sinne des Überkunden ist. „Wir sind die Firma mit dem allergrößten Gewinn!“ Und sie sehen es als logischen Schluss an, dass ein Unternehmen, das eine hohe Rendite erzielt, auch gut für den Kunden sein MUSS. Bitte – das ist nicht logisch! Diktatoren, Galeerenbetreiber, Raubritter oder Zuhälter erzielen Traumrenditen – sind sie gut für Kunden? Aber der dumme Kunde soll eben so denken: Wenn der Überkunde eines Unter-nehmens mit diesem zufrieden ist, dann ist schon klar, dass das Unternehmen INSGESAMT – auch für den Kunden – erstklassig ist! Der Überkunde ist jetzt so mächtig geworden, dass seine Zufriedenheit mit Zufriedenheit schlechthin gleichgestellt ist. Und das, obwohl der Überkunde immer mehr Front gegen den Kunden macht. Der Überkunde zwingt das Management, die Leistungen für den Kunden zu faken und zu drosseln und sie in Renditeerhöhungen umzumünzen.
Das mittlere Management ist auch eingeknickt. Es fordert nur noch bessere Zahlen für den Überkunden und die Rendite. Es zwingt nun das untere Management und dann die einzelnen Mitarbeiter des Kunden, nur noch an den Überkunden zu denken. Jeder Mitarbeiter wird nun am Profit gemessen, also am Erfolg für den Überkunden. Der Kunde ist nur wichtig, wenn es ihm zu arg wird und er weglaufen will. Da bekommt er ein Honigpflaster. Außerdem arbeiten inzwischen fast alle Unternehmen für den Überkunden. Der Kunde kann nicht mehr dahin gehen, wo es besser wäre.
Die Zerreißprobe und damit die Ertragsscheide ist jetzt im Mitarbeiter, der den Kunden direkt bedient. Er muss gleichzeitig dem Kunden dienen und den Überkunden befriedigen. Alle anderen über ihm haben sich ganz dem Überkunden verschrieben. Sie managen den Profit. Der Mitarbeiter bildet die Front zwischen Kunde und Überkunde und badet den ganzen Krieg aus.
Es sieht jetzt so aus, als ob nun fast alle Menschen nur noch für den Überkunden arbeiten. Das ist nicht so, weil ja die meisten von uns Mitarbeiter sind und nur wenige von uns sind Manager. Wir Mitarbeiter wissen ja auch, dass wir nach unserem Feierabend selbst Kunde sind. Dieses Wissen schlägt uns sehr auf Galle und Leber, es geht uns ans Herz. „Stelle den Kunden zufrieden, aber verdopple den Gewinn!“, so lautet der simple Marschbefehl für uns Mitarbeiter.
Was können wir vor dem Burnout tun? Müssen wir jetzt auch irgendwann unsere Herzenswärme für die Kundenseite aufgeben und gleichgültig gegen den Kunden werden? Die sprichwörtlich zwanghaften Beamten in den alten verstaubten Behörden waren zum Beispiel ausschließliche Diener des Staates, ganz und gar nicht solche des Bürgers. Sie waren traditionell Vasallen des Dienstherrn. Werden wir nun alle wieder so? „Haben wir nicht, bin ich nicht zuständig, habe keine Zeit, warten Sie, bis Sie dran sind – und was wollen Sie mit welchem Recht?“ Werden wir nur gut überleben, indem wir uns mit dem Überkunden identifizieren, also nicht mehr mit dem Unternehmen wie früher?
Früher war der Kurs eines Unternehmens eine Strategie im Sinne des Kunden, heute ist der Unternehmenskurs eine Renditezahl. Alles fing damit an, dass jemand die naive Logik mit dem UND wie Team und Fairness durch das ENTWEDER ODER ersetzt hat, das den Kampf einleitete. Wir könnten jetzt als Kunden gegen den Überkunden ebenfalls kämpfen, indem wir in Scharen davonlaufen und nichts mehr kaufen. Aber wir sind inzwischen zu arm geworden und leben nur noch, wenn wir das Geld auch ausgeben. In einer Diktatur weniger Reicher bei vielen Armen können die Armen nicht weglaufen, verstehen Sie?
Und trotzdem: Das ODER muss wieder dem UND weichen. Wie aber schaffe
ich das, wenn die meisten gar nicht gemerkt haben, dass sie das UND
verlassen hat? Wie schaffe ich das, wenn die meisten gar nichts vom
UND wussten?