Der Zorn des Deutschen darf Jammer nur sein (Daily Dueck 68, Juni 2008)

Der Deutsche jammert, was man ihm vorwirft. Er greint ständig herum und schweigt wie das Lamm zum Schlachten vor den gewetzten Augen der Autorität. Warum aber jammert er nur und wird nie wirklich laut? Ich spüre: dieser Jammer ist hinweg erzogener Zorn. Der zornige Wille trifft auf introjizierten Überwillen: „Halt deine Klappe, du deutscher Kleinmensch.“

Bei Freud heißt es wohl Über-Ich und Es? Wie immer man es nennt – oft sehe ich in Menschen zwei Kräfte aufeinanderprallen, die sich gegenseitig auslöschen. Wie die physikalische Kraft und die Gegenkraft heben sie sich auf und es bleibt oft ein elender Rest über. So ein Überbleibsel des Konfliktes ist zum Beispiel das Jammern des Deutschen. Bei anderen Gelegenheiten ist es schale Unlust, dann wieder Resignation, die im Alter schon mal lächeln kann. Ein andermal fühlen wir uns depressiv oder tief frustriert. Immer ist eine Anstrengung an etwas noch Härterem oder Mächtigeren abgeprallt.

• Herdentiere wie manche Antilopen sind zwar immer beisammen, aber sie berühren sich faktisch nie. Davor haben sie Angst entwickelt. Sie berühren sich nur beim Sex. Wenn das Männchen aufspringt, kocht im Weibchen die Berührungsangst hoch und wird durch Sexualhormone niedergehalten, die es inmitten von Angst zum Stillhalten zwingen. Auch das Männchen hat große Angst vor der Berührung, wird aber durch seine Hormone zum Handeln gezwungen. Das Männchen versucht so schnell wie möglich davonzukommen. Biologen beobachten oft, dass das Weibchen total ruhig steht und sich selbst leckt, also Reinigungsbewegungen ausführt. Diese seltsame Handlung ist der Rest aus dem Anprall des Fluchttriebes und des Still-haltenmüssens oder Berührenmüssens. (Man schließt eigentlich nur aus dem Verhalten von Ratten auf Menschen, hier aber könnte man …)


• Studenten in Vorlesungen haben oft einen Ideenblitz in den Augen, das sehe ich! Die Augen weiten sich freudig – ganz schnell. Sie leuchten wie eine angeknipste Glühbirne auf. Und dann? Verlöschen sie wieder. Ich sehe bei meinen Reden dieses Blitzen wie Lichter, die fast immer gleich wieder ausgehen. Wenn ich in die Leuchtaugen direkt schaue, blicken sie zur Seite und verlöschen wie traurig. Das Leuchten ist die Idee, die im Kopf das Licht einschaltet. Dann aber erhebt sich gewaltig die Gegenkraft. „Halt deine Klappe, du willst wieder etwas schön Dummes sagen wollen, du niedriger Zuhörer.“ Das ist unsere deutsche Erziehung. „Sag nur etwas, wenn es konstruktiv, solide und korrekt ist und wenn es von der anderen Seite er-wünscht wird.“ Die Kraft der Idee hebt sich in dieser Gegenkraft auf. „Da – Licht!“ gegen „Du machst dich bitte nicht lächerlich oder hebst dich hervor!“ Zurück bleibt die Wunde der Gegenkraft, das Gefühl, eigentlich niedrig und dumm zu sein. Je mehr Ideen Sie also haben, umso dümmer kommen Sie sich bei diesem Spiel vor. Hundert selbstunterdrückte Ideen und Sie halten sich wahrscheinlich für einen elenden menschlichen Sonderling. Je intelligenter Sie sind, umso dümmer kommen Sie sich vor.


• Unsere Vorgesetzten sind auch Deutsche, die eigentlich keine Idee haben dürfen. Wenn jetzt aber ein Mitarbeiter eine hat? Darf er das, wo doch der Vorgesetzte sich selbst das Neue oder Aufbegehrende verbietet? Der Vorgesetzte dient treu dem System, zu dem auch die Erziehung gehört. Er selbst hatte leuchtende Ideen, die in seinen Augen erloschen. Wird er sich am Licht in Mitarbeitergesichtern erfreuen? Schon der Mitarbeiter selbst traut sich kaum etwas zu sagen. Aber da ist dann noch der Vorgesetzte, der durch die Ideen angegriffen sein wird. Selbst wenn der Mitarbeiter die niederdrückende Gegenkraft in sich selbst überwände, was geschähe dann? Alle diese Kräfte heben sich auf. Im Vorgesetzten verbleibt das Gefühl des Argwohns, im Mitarbeiter das der Bekümmerung oder des Jammers.


• Junge Politiker oder ganz neue Erstmanager haben oft ein Blitzen einer Idee in den Augen. Sie sind ganz unverbraucht. Sie wollen etwas, aber sofort regt sich die Gegenkraft der Parteiräson oder der Firmenkultur. „So wirst du nicht gewählt!“, droht die Gegenkraft oder „Das versaut deine Karriere ganz sicher.“ Zurück bleibt Resignation und ein restlicher Ehrgeiz, der in der irren Hoffnung weitermacht, dass die Idee ganz am Ende doch noch siegen könnte, wenn man als Politiker oder Manager endlich einmal oben wäre. Sie wissen aber nicht, dass sie dereinst dann, wenn überhaupt, ganz poliert sein werden.

Dabei sind wir hell zornig! Wir sind böse!

Wir sind entsetzt über die Skandale des Managements und der Selbstbedienung. Wir sind empört über die Entlassungen. Wir sind tief verärgert über die Politik, die sich nur noch im Machtkampf übt und sich wie permanent im Wahlkampf benimmt. Niemand traut sich, eine neue Idee direkt in andere Augen zu äußern. Sie werfen feige ihre Ideen hinter vorgehaltener Hand der BILD-Zeitung zum Fraß vor, die sie am nächsten Morgen bewertet und richtet. Und dann fragen alle nach: „Sie wollen wirklich alle Steuern abschaffen?“ – „Oh Verzeihung, ich wurde ganz falsch verstanden!“

Immer wird das, was Bewegung bringen soll, durch die große Macht des Niederhaltens unterdrückt. Die will die Erziehung in uns haben. Unsere Natur der Zuversicht wird durch unsere Kultur des Klappehaltens im Zaum gehalten. In uns kocht der Zorn, wie es in unserem Lande steht. Aber die Gegengewalt presst uns zum Schweigen.

Es bleibt ein Rest in uns über, weil Kraft und Gegenkraft sich nicht ganz genau aufheben. Es ist Politikerverdrossenheit, Managementschelte, Rentenpessimismus, Perspektivlosigkeit – das Einwilligen in einen nicht enden wollenden Trott, den wir nicht billigen. Im Ganzen gesehen ist genau all das der deutsche Jammer, der uns erfüllt, dieses Restwissen, nicht leuchten zu dürfen.

Und auf diesen Kummer hinauf häufen die da oben nun den Tadel, dass wir alle nur jammern statt etwas zu tun. Ja, wenn es doch erlaubt wäre, etwas zu tun! „Macht doch, entscheidet schnell, tut etwas, macht meinetwegen Fehler, das tut nichts, wir brauchen Innovation, Zuversicht, Losgehen, Nichtfragen!“, schreien die da oben und sind doch selbst ebenfalls gehemmt.

Wir müssen das Deutschsein umbauen. Dann sind wir den ganzen Jammer los. Vermutlich kommen beim Umbau aber wieder andere Fehler in uns hinein, die wir jetzt noch gar nicht haben. Lebenslust, Selbstdenken, freie Energie oder so, wir müssen da sehr vorsichtig vorgehen. Brich den Willen oder er bricht aus.

Gunter Dueck

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