Links im Sinnraum
Der perfekte Mensch in der TV-Vorstellung (Daily Dueck 66)
Meist haben wir kaum mehr Zeit als schnell etwas auf der Straße zu essen. Dafür schauen wir uns am Abend Kochsendungen an, die die eigentliche Kultur ersetzen. Das ist ein fabelhaftes Modell für überhaupt alles! Als nächstes sollten wir Fitness-Sendungen haben, weil wir ja doch die Zehnerkarte für das Fitness-Studio nicht einlösen können.
Die Sendung könnte „Der perfekte Body“ oder „Voyeur, Voyeur“ heißen. Ein paar Prominente – es müssen wohl immer vier sein – führen darin vor, wie sie sich in ihrem lokalen Fitness-Center schin-den. Sie stellen sich gegenseitig Aufgaben wie „Probier’ jetzt mein Spezialgrillgerät zum Waschbrett-Spare-Ribbing.“ Danach bewerten sie sich gegenseitig. Die Schweißbildung spielt eine Rolle, wie sehr es Spaß gemacht hat, wie weh es getan hat. Natürlich sind gute Körper sichtlich im Vorteil wie in den Kochsendungen solche, die vorher schon mehr Geräte als nur Mikrowellen kannten. Also müsste auch Mitleid punktemäßig mitzählen oder wir könnten Aussehenshandikaps einführen (15 Punkte auf der nach oben offenen Beckmesser-Paris-Skala).
Voyeur! Wir wollen malträtierte Körper sehen: Schöne offen dargelegt, mit kosmetischen Kratzern, oder auch ganz wabbelnde, die glücklich jeden Mini-Erfolg beim Ein-Kilo-Hantel-Stemmen bekreischen. Alles soll genau authentisch sein, als wären wir es selber, die sich quälen. Da bemühen sich uns liebe Menschen, uns ans Herz gewachsene Promis ernsthaft um etwas, wofür wir selbst keine Zeit mehr haben. Lange Zeit wollten wir das nur bei Liebe und Sex bezahlen, jetzt aber ist mit den Kochsendungen der Bann gebrochen.
Wir dehnen das bewährte Prinzip bei Grundtriebbefriedigung jetzt erstmal auch auf Fitness aus. Danach auf alles andere. Nur noch Prominente befassen sich mit dem ernsten Leben, wir schauen zu. Sie werden uns für alles zur Verfügung stehen, das ist nach den Dschungelsendungen sicher, wo sie für eine Bratwurst schon mal bei Flötenspiel zu einem medizinischen Schlangeneinlauf jauchzen. Prominente werden Spargel stechen, Mathe-Nachhilfe nehmen, Kampfwirkungstrinken zeigen oder im Garten graben müssen, sie sollen Weihnachten um die Wette feiern – so ab September, die besten vier bescheren uns dann das echte TV-Fest. Sollen die doch die ganzen Liedtexte lernen! Wir glotzen.
Diese neue Art zu leben sollten wir Virtualisierung oder Virtual Life nennen. Das gibt es im Internet schon seit etlichen Monaten. Menschen laufen da als selbst nachgemachte Avatare herum und erleben elektronisch etwas Banales gegen Geld. Sie fühlen sich dabei wie Stars. Das ist der Witz dabei. Aber bitte – das ist doch ein Witz gegen alle die wunderbaren Prominentensendungen! Da müssen Promis uns selbst dienen! In allen möglichen Sendungen für alle Lebenslagen! Sie müssen sich von uns bewerten lassen, genau wie wir es von der Arbeit her so hassen. Wir wollen uns an ihren Emotionen weiden, weil wir dafür keine Zeit mehr haben.
Ich träume … welche Sendung würde ich mir wünschen? Wofür habe ich keine Zeit? Vielleicht wäre es schön, sie würden jeden Abend mich selbst spielen, so gut sie können! Ich kann dann nebenbei noch literarisch arbeiten und lasse den Fernseher nebenher mitlaufen – damit alles wie aus einem Erguss stimmt.
Dann hört bald alles auf. Seit Sex perfekt prominent dargestellt wird, schüchtert uns das virtuelle Amateursein ganz schön ein. Demnächst kochen wir auch nicht mehr, wenn die Prominenten es irgendwann gut können – wir oder sie sind nahe dran. Danach fallen die Fitnessstudios! Die Ballermänner veröden, denn das Übelsein über dem Saufen wird dem TV übergeben. Alles virtualisiert sich. Und bald werden sie mich auch weit besser spielen als ich es je selbst könnte – denn für Geld tun sie alles. Dann hab ich auch keine Lust mehr, ich selbst zu sein.
Endlich kann ich überzeugt loslassen.
Nirwana.
Nur Prominente sind verflucht, ein gewünschtes Leben zu haben.