"Sie sind Q negativ!" Alle abnormal! Alle krank! (Daily Dueck 31)

Die Gesellschaft will uns als rechteckige Ziegelsteine in der Mauer formen. Wir sollen alle gleich aussehen, wie „Quads“ oder Quader. Leider sind wir nicht gleich. Deshalb muss Zwang angewendet werden. Wir werden neuerdings wissenschaftlich untersucht, ob wir gleich sind. Ergebnis: Q –

Melatonin ist ein Hormon der Zirbeldrüse (dem vermuteten Sitz der Seele bei den Griechen – dort sitzt das 7. Chakra, das Sahasrara-Chakra, nach manchen Hindu-Mystikern). Es steuert den Schlaf beim Menschen. Ohne Melatonin ist für Sie immer Tag! Neulich berichtete mir eine Managerin, sie sei bei einer medizinischen Untersuchung gewesen und habe ein niederschmetterndes Resultat erzielt. Ihre Melatonin-Werte seien entsetzlich niedrig – sie müsse sofort hormonell behandelt werden, weil sie sonst überhaupt nicht schlafen könne. Das erstaunte sie sehr, denn sie hat einen stets guten, gesunden Schlaf! „Ich schlafe doch!“ Aber der Arzt wollte das nicht akzeptieren. Es komme nicht nur auf den Schlaf an, sondern auf die Melatonin-Werte. Die müssten ins normale Intervall zurück. Das wisse jeder Computer.
Jetzt da ich das schreibe und wieder drüber lächele: Als ich mit meinen Kindern vor langer Zeit beim Arzt wartete, schrie eine Mutter hysterisch herum, mit ihrem Kind stimme etwas nicht. Denn es sei 18 Monate und habe noch keinen einzigen Zahn! (Das „normale“ Kind zahnt ab dem Alter von 6 Monaten!). Da setzte sich der Arzt vor sie hin, schaute ihr ernst in die Augen und fragte sie mit eindringlich beruhigender Stimme: „Haben Sie schon einen einzigen Menschen ganz ohne Zähne gesehen?“

Mit etwas Weisheit gesehen ist alles besonders, nicht unnormal. Mit einiger Ruhe verstehen wir, dass wir alle besondere Menschen sind. Vieles Ungewöhnliche ist eben auch normal! Es gibt Große und Kleine, Lebhafte und Schüchterne, Blonde und Blauäugige. Das kommt vor!

Seit einiger Zeit aber machen uns die Computer intolerant. Der Arzt lässt uns Blut zapfen und bekommt vom Computer tausend Messwerte zurück, von denen der Arzt vielleicht gar nicht so viel im Einzelnen versteht. Da der Computer das schon aus Erfahrung weiß, gibt er die normalen Bandbreiten an, in denen die Messwerte liegen müssen. Clevere Computer geben nur diejenigen Werte rot angestrichen an, die außerhalb der Normalität liegen. An denen muss dann angeblich eine Behandlung ansetzen. Wenn alle Werte normal sind, muss der Mensch vollkommen gesund sein. Das ist bei Autos auch so. Meins ist mal stehen geblieben. Sie haben die Elektronik gecheckt und als Ergebnis bekommen, dass alle Werte okay seien, alles funktioniere einwandfrei. Der Geselle sagte: „Eigentlich müsste es fahren!“ Die Controller der Unternehmen messen die Abteilungen durch und checken genau, ob sie alle vorgeschriebenen Werte überschreiten (!). Bei Managern gibt es nur nach oben offene Skalen. Man kennt dort keine Normal-Intervalle, sondern nur Mindestziele. Wenn man also ein Baby managen würde und es wäre nach einem Jahr ganz fett und wöge 30 Kilo, dann bekäme der Manager einen fetten Bonus dazu!

Woher kommt diese Intoleranz? Wer oft und viel misst, bekommt einen Datensalat. Vor lauter Daten weiß man gar nicht, wie das Ganze beurteilt werden soll. Weil so viele Daten gemessen werden, schaut man gar nicht mehr, ob auch wirklich alles Nötige dabei ist, was man messen SOLLTE. „Ist das und das auch berücksichtigt?“, frage ich manchmal und sie sagen: „Das ist schwer messbar.“ Oder: „Das zu messen ist zu viel Arbeit – das kostet.“ (Wenn sie aber denken, das Messen ergäbe tolle Ergebnisse, messen sie, koste es, was es wolle!) Im Grunde stehen wir also vor einer großen Ansammlung von Daten und der Computer druckt in rot aus, was nicht normal ist. Das schauen wir uns an. Das andere gar nicht mehr, es wird uns viel zu viel!

Helmut Gillmann, einer der Altväter der Internisten, wird so zitiert: „Je mehr diagnostische Parameter herangezogen werden, desto geringer wird der Prozentsatz völlig 'normaler' Personen. Untersucht man Menschen, die sich gesund fühlen, mit 20 Messmethoden, so sind nur 36 Prozent völlig normal. Bei 100 Methoden ist nur noch ein Prozent als völlig normal zu bezeichnen.“

Wir müssen also nur furchtbar viel messen, dann stimmt bei jedem etwas nicht! Wenn jeder unnormal ist, können wir sofort an ihm arbeiten! Niemand, stellt der Computer fest, ist richtig quaderförmig! „Quad negativ!“ Die Schüler haben alle Macken! Die Gebisse sind alle klammerungswürdig! Die Mitarbeiter haben Schwächen oder „room for improvemment“. Die Gesichter haben alle Falten! Q negativ!
Wenn wir viel überprüfen, ist immer irgendwo ein Mist zu finden. („Ich prüfe diese Abteilung so lange, bis alle auf der Anklagebank sitzen. Noch nie bin ich ohne Befund gegangen!“) Dann wird der Befehl gegeben, keine abweichenden Daten zu haben. Abweichungen sind ROT!

Deshalb schaut nie mehr jemand, wo wir gut sind. Gut ist grün. Sie sehen über unsere 1000 Daten und hassen uns für die 12 roten dabei. „Mach sie weg!“ Deshalb stärken wir nicht unsere Begabungen und Fähigkeiten, wir doktern an den paar als unnormal angesehenen Seiten an uns. Der Computer nimmt uns nicht für normal, so lange etwas rot ist. Der Arzt dann nicht, der Lehrer nicht, der Chef erst recht nicht. Der Arzt freut sich über Unnormale ja noch, weil er dabei verdient. Ihr Chef aber wird für Ihr Rotes seinerseits von noch weiter oben bestraft! Deshalb wird es zu den roten Daten noch rote Augen geben, bei Ihrem Chef und Ihnen auch. „Sie sind Q negativ!“

Wie sagte weiland Karl Kraus? „Die häufigste Krankheit ist die Diagnose.“

Und die häufigste Krankheit ist „Sie sind Q negativ!“ Sie sind noch kein Ziegel, kein Quader, keine Quadratur des Menschen. Niemand hat den Schneid zu sagen: „Es ist gut so.“, auch wenn noch rote Punkte offen sind. Darf man Menschen lieben, die rote Punkte haben?

Innovation ist immer Q negativ!
Kunst ist immer Q negativ!
Geist ist immer Q negativ!
Fortschritt ist immer Q negativ.
Liebe ist immer Q negativ, sprach Hans Sachs zu Sixtus Beckmesser.
Die Seele ist ewig Q negativ, sprach Jesus zu den Pharisäern.

Ach, gesunder Menschenverstand – verzage nicht vor Total Q!

Gunter Dueck

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