Du Ziegelstein (Daily Dueck 30)

Wenn Menschen neben mir zusammengeschlagen werden, muss ich unter dem Risiko eigener Gefährdung helfend beispringen. Das weiß ich. Deshalb versuche ich, nie dort zu sein, wo so etwas geschieht. Wenn aber Menschen neben mir erzogen werden? Muss ich dann wegschauen? Neulich war ich schrecklich feige, aber eine Heldentat hätte auch nichts genützt.

Es geschah im REWE.
Ein jüngeres Paar (vor Jahren hätte man unbesorgt Ehepaar schreiben können, aber die Zeiten haben sich geändert) kam mit Kind zur Kasse. Die Eltern schienen um die 25 Jahre, das Kind war etwa drei Jahre alt. Sie hatten nur drei, vier Artikel gekauft, die das Kind stolz wie Oskar in einem der kleinen Kindereinkaufswagen mit Elternsichtfahne zur Kasse fuhr. Vollkommen wie ein Großer nahm das kleine Kind einen ersten Artikel aus dem kleinen Wagen und versuchte, ihn auf das Kassenband zu legen. Das schien nur schwer zu gelingen. Das Kind musste sich arg recken, das Band war ihm sehr hoch. Aber ich sah von der Nebenkasse aus, wo ich wartete, dass es das Kind schaffen würde. Das Kind merkte das ebenfalls, es lächelte schon siegesgewiss und ganz selig.
Es geschah im REWE.
Der Vater murmelte „Das kannst du nicht, lass das“, nahm den Artikel aus der kleinen Hand und – schwupp – waren auch alle anderen Gegenstände auf dem Band. Da sah ich die Seele des Kindes sterben. Es ist ein ganz kleiner Moment, in dem die Züge entgleisen. Er ist ganz kurz und leicht zu übersehen. Denn ein Kind schreit immer sofort danach wie am Spieß, weil es weh tut, wenn das Herz gestochen wird. Schneidend weh! Die Mutter herrschte das Kind an: „Wirst du ruhig sein! Sonst setzt es etwas!“ Die Kunden in der Schlange nickten, es waren brave eingegrenzte Deutsche. Das Kind schrie. Die Kassiererin – piep, piep, piep, piep – wartete schon auf das Geld. Das Kind schrie. Der Vater schlug es – nicht hart, nur so, damit es sich beruhigen konnte. Alle waren ungeduldig, dass es weiterging.
Es geschah im REWE.
Ich war ganz überwältigt vor Zorn und Scham über diese Schändung einer Seele. Ich überlegte, ob ich eine öffentliche Szene machen sollte, aber ach! Ich und Nachdenken, ob! Das tun nur Ziegelstein-Menschen wie ich! „Another brick in the wall.“ Das darf man keinesfalls! Nachdenken! Überlegen! – Man muss spontan eine Szene machen! Da wird nämlich ein kleines Kind zum Ziegelstein und Mauerteil wie ich gefaltet. Aber es wehrt sich noch und schreit wie am Spieß. Kann ich ihm helfen? Müssen wir nicht alle erwachsen werden? Was wäre, wenn ich protestierte? Es ist normal, „das kannst du nicht“ zu sagen. Das ist völlig normal. Ich bin nicht normal. Hoffentlich nicht. Oder doch? Ich schaudere.

Dann sehe ich die Ziegelsteine im Beruf wieder. Da leuchten manchmal – ganz selten – noch Augen auf und blitzen. Und diese Augen leuchten den Weg zum Abteilungsleiter und sagen: „Chef, ich habe eine Idee, wie wir noch mehr Geschäft machen können.“ Der Chef aber gibt barsch zurück: „Davon verstehen Sie nichts. Mischen Sie sich nicht in Dinge ein, die Sie nichts angehen. Sie versuchen am laufenden Band, etwas zu tun, was zu hoch für Sie ist. Ich habe keine Zeit dafür. Ich muss dafür sorgen, dass alles wie am Schnürchen läuft. Wie am Fließband – und ich muss Kasse machen, schnell!“

Wir sind ein Volk, das innovativ und kreativ sein soll. Wir werden aber zu Ziegeln geformt. Und wer jünger ist, kennt wohl nur noch Hohlziegel mit Sparflammenabitur. Die sind effizienter.

Wenn ich auf Vortragsreise bin, sehe ich Sie – ja Sie! Sie sitzen im Publikum oder als Student im Hörsaal – wie als Mitarbeiter im Meeting. Und ich sehe in Ihre Augen. Und oft blitzt es in Ihren Augen unmerklich auf. Erkenntnis kommt an die Oberfläche, Begeisterung und Interesse. Und es blitzt, als wollten Sie jetzt mitdiskutieren und etwas fragen oder sagen, beitragen und helfen. Es blitzt ganz kurz, aber es erlischt sofort wieder. Auch wenn ich Sie am Ende eines Vortrags noch bitte, Fragen zu stellen! Immer blitzt es auf und erlischt! In Ihnen spricht etwas: „Das müsste ich wissen! DAS brennt in mir!“ Und Ihre Augen leuchten auf und sind selig. Dann aber zischt in Ihnen dieses andere: „Lass es! Nicht vor den anderen! Halt dich zurück, du Ziegel, wie alle! Du wirst etwas Dummes sagen, etwas Törichtes aufs Trapez bringen, was dir nicht wohl ansteht, du Durchschnittsgewächs!“ Ihre Augen blitzen auf und machen Shutdown. Weite Pupille wie ein Kind, enge Pupille wie ein Ziegel. Ihr Körper ruckt kurz vor und lehnt sich hart gezwungen zurück.

Eine Millisekunde das Es, eine Millisekunde das Über-Ich. Sie – ja, Sie! – schreien nie mehr wie am Spieß. Sie sind jetzt neutralisiert („unwirksam gemacht“). Es geschah im REWE.

Latein? Neutralis = sächlich. Chemie? Base + Säure = nichts mehr los. Nichts mehr los mit flammendem Sein.

Gunter Dueck

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