Die Abtötung des Handlungsreisenden (Daily Dueck 27)

„Das einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin.“ Das schrieb der Amokschütze dieser Woche, der sich durch seine Tat in das Hirn derer brennen wollte, die ihn das alles lehrten. Er schoss sich in den Mund.

Selbst schuld, wer ein Verlierer ist! So denken heute alle, denn Gott heißt Darwin. Aber sie sagen nach dieser Amoktat und nach jeder Amoktat: Jede Schule braucht einen Schulpsychologen. Die Schulen brauchen Überwachungskameras. Die Polizei muss mehr Leute einstellen und herausfinden, wie man Waffen für Amokläufe kaufen kann. Eltern sollen den Computerstecker ziehen und die virtuelle Welt töten. Alle Computer-Shooter müssen auf der Stelle verboten werden. Lehrer und Eltern müssen entschlossen die Gewalt bekämpfen. Härtere Strafen für Amokselbstmörder. Wir brauchen neue Gesetze gegen Gewalt an Schulen. Über allen Türen müssen Metalldetektoren angebracht werden. Kampf dem Alkohol. Verbot der Jagd und aller Waffen. Ordnung und Gerechtigkeit. Leistung für Leistung.

Vor einigen Tagen redete ich bei einer Konferenz einen Top-Manager an, der am Rande alleine ins Glas schaute. Er wirkte unendlich traurig. Er erzählte ein wenig. „Sie zählen meine Umsätze täglich zusammen, wieder und wieder. Ich habe Mondziele bekommen, die ich nie erfüllen werde. Ich muss mich täglich verantworten. Sie sind unerhört brutal. Sie sagen: Weiß deine Frau, dass du ein Versager bist? Erzählst du ihr, dass du nichts bringst? Weiß sie, dass du dich nicht für die Firma einsetzt? Was würdest du deinen Kindern antworten, wenn sie deine Zahlen hier sähen? Sie sind jämmerlich. Könntest du deinen Kindern ruhig ins Gesicht sehen? Siehst du ihnen überhaupt noch ins Gesicht? Was tust du den ganzen Tag? Wofür – glaubst du – wirst du so hoch bezahlt? Bist du denn nicht den vollen Einsatz schuldig?“

Wir erschauerten.
Ich fragte ihn, warum sie ihn nicht einfach feuerten.
Er lachte bitter auf.

„Wenn sie mich feuern, müssen sie für teures Geld einen Nachfolger einstellen und einarbeiten. Sie werden ihm dieselben Mondziele geben, die er nicht erfüllen kann. Er wird sich wehren und sagen, er sei Neuling. Sie werden das irgendwie anerkennen müssen. Sie werden ein wenig Fairness heucheln müssen und ihm 100 Tage Zeit geben. Mich aber können sie in dieser Zeit unentwegt prügeln, ohne einige Monate Pause. Ich bin vielleicht nicht so gut wie der Neue, aber es gibt mit mir keine Unterbrechung und sie kennen mich und wissen, wie sie mich klein kriegen. Oft denke ich, ich bin wirklich ein Versager. Aber habe ich denn nicht eine steile Karriere gemacht? Ich denke oft an die Schullektüre. Andorra. Max Frisch. Verstehen Sie?“

Diese Sätze lagen mir schwer auf der Seele, ich habe sie ein paar Mal anderen Leuten erzählt. Und diese Zuhörer waren tief erschrocken. Das darf man mit Menschen nicht tun! Nie! Das ist wie Seelenmord, wie Psychozid. Andorra. Tod des Handlungsreisenden. DAS DARF MAN MIT NIEMANDEM TUN. Außer mit Kindern vielleicht.

Ich stelle mir eine ideale Welt vor: Überall Kameras und Polizisten. Allmächtige Eltern und Lehrer. Keine Computerspiele. Keine Drogen. Kein Alkohol. Keine Waffen. Keine Gewalt.

Und Lehrer, die immer noch sagen würden: „Wissen deine Eltern, dass du nur Mist baust? Sollen wir es ihnen nochmals berichten? Oder sagen sie es dir nicht schon selbst, wie wir es schon öfter von ihnen erbaten? Kannst du ihnen noch in die Augen sehen? Du, der du von ihnen liebevoll großgezogen wurdest und der du ihnen undankbar auf der Tasche liegst?“

Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. „Wie ein Hund!“ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.

Kafka. Der Prozess. Das Ende. Die Abtötung. Kafka schrieb einen Brief an den Vater. Nicht im Internet, sondern auf Papier. Kafka spielte nicht Counterstrike und nahm kein Rauschgift. Aber der Brief begann so:


Brief an den Vater

Liebster Vater,
Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte. Und wenn ich hier versuche, Dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht.
Dir hat sich die Sache immer sehr einfach dargestellt, wenigstens soweit Du vor mir und, ohne Auswahl, vor vielen andern davon gesprochen hast. Es schien Dir etwa so zu sein: Du hast Dein ganzes Leben lang schwer gearbeitet, alles für Deine Kinder, vor allem für mich geopfert, ich habe infolgedessen »in Saus und Braus« gelebt, habe vollständige Freiheit gehabt zu lernen was ich wollte, habe keinen Anlaß zu Nahrungssorgen, also zu Sorgen überhaupt gehabt; Du hast dafür keine Dankbarkeit verlangt, Du kennst »die Dankbarkeit der Kinder«, aber doch wenigstens irgendein Entgegenkommen, Zeichen eines Mitgefühls; statt dessen habe ich mich seit jeher vor Dir verkrochen, in mein Zimmer, zu Büchern, zu verrückten Freunden, zu überspannten Ideen; offen gesprochen habe ich mit Dir niemals…[…]

Kafka schickte den Brief nie ab. Scheitern. Vergebliches Streben. Legitimierte Grausamkeit. Er schoss mit Worten und brannte sich ins Gehirn derer, die so verletzt werden wie er.

Im Grunde sterben nur Seelen, die merken, dass sie verlieren. Es sind also nur wenige. Das ist unser Trost.

Gunter Dueck

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