Links im Sinnraum
Keine Richter, nur Henker (Daily Dueck 26)
Ethik fragt nach dem, was wir als Individuum oder Gemeinschaftsmensch tun sollen. Die Vorschrift oder der Code of Conduct befiehlt, was wir tun müssen. Wir fühlen in letzter Zeit oft, dass wir müssen, was wir nicht sollten. Wir haben nicht verstanden, dass wir nicht mehr nur uns selbst, Gott und der Gemeinschaft verpflichtet sind, sondern auch …ja, wem? Der Effizienz.
Ethik fragt, wie verantwortlich gehandelt wird. Die Vorschriften werden um die Antworten der Ethik wie ein Cocon (Code of Conduct) herum gesponnen, damit das, was getan werden soll, nicht aus den Augen verloren wird – damit das, was getan werden soll, im Grunde auch getan wird. Die Vorschriften regeln das Minimum, die Ethik sieht auf das Höchste. Die Vorschriften sind dazu da, das Höchste zu fördern. „Liebe den Nächsten wie dich selbst!“ will die christliche Ethik, und „Du sollst nicht töten!“ das Mindestgebot.
Die Verkehrsschilder zum Beispiel stellen als Gesamtheit eine gigantische
Vorschrift dar, die nur das ausdrückt, was als ethisches Verhalten
im Paragraph 1 der Straßenverkehrsordnung festgelegt ist - nämlich:
Das gegenseitige Rücksichtnahmegebot und die Vorsicht für
sich selbst. Wir empfinden die Verkehrsvorschriften immer ein wenig
zu hart, weil sie über den Konsens hinausgehen und schon eine
unnötig erziehende Miene aufsetzen. Die Moral wird teilweise
über die Ethik geschrieben.
Stellen Sie sich im Extrem vor, die Behörden würden Tempo
30 auf Autobahnen verordnen! Eine solche Vorschrift hat gar nichts
mit Rücksicht oder Vorsicht zu tun. Sie steht im glatten Widerspruch
zur Ethik, die im Paragraphen 1 niedergelegt ist. Deshalb würden
wir alle Tempo 30 ignorieren. Die Regierung müsste bestimmt die
Bundeswehr einsetzen, um eine solche Vorschrift durchzusetzen. Wir
wollen nicht müssen, was offenbar sinnlos ist!
Wir haben zu Hause bei Tisch ein wenig über einen tragischen Fall diskutiert. Im Nachbardorf hatte der im Supermarkt angestellte Fleischermeister nach der harten Vorschrift drei volle Kilo Hackfleisch vernichten müssen und es als wirklich braver Deutscher nicht übers Herz bringen können. Er mischte es am nächsten Morgen unter, wurde prompt scharf kontrolliert und natürlich sofort entlassen, weil er eine ganze Ladenkette in Verruf gebracht hatte. „Warum nimmt er das doofe Hackfleisch nicht einfach mit und isst zu Hause ein paar Tage Frikadellen?“, rief ich, wurde aber von Caro korrigiert, die manchmal als studentische Aushilfe beim Bäcker arbeitet. „Wir durften einige Zeit lang auch alles Unverkaufte mitnehmen, aber manche legten ihre Lieblingskuchen beiseite und tricksten den Bäckermeister aus. Das kam irgendwann ans Licht, und nun müssen wir ganz unbedingt alles vernichten.“
Das Bekämpfen von Verantwortungslosigkeit durch harte Regeln zwingt Verantwortungsvolle unter Umständen zu unethischem Verhalten, wenn die Regeln das Höchste nicht unterstützen. Das Höchste muss unter den Regeln erlaubt sein! Moral darf Ethik nicht verletzen.
Schlechter Schulunterricht wird durch zentrale Abiturprüfungen bekämpft. Exzellenter Unterricht wird dadurch tendenziell unterdrückt. Das muss in Kauf genommen werden, denn der Lehrplan steht über allem – das Normale und Vorgeschriebene. Im Servicebereich sind wir schon weiter: Wer zu schlechten Service leistet, betrügt den Kunden. Wer mehr tut als gefordert, schädigt den Shareholder oder Arbeitgeber. „Tut mir leid, ich darf Ihnen nicht sagen, wie spät es ist, denn Sie haben nur Normalkundenstatus. Ich könnte es allerdings gegen Aufpreis tun. Zahlen Sie?“ – „Klar könnte ich ihn schnell wieder beleben, aber ich brauche erst eine Versicherungsnummer, die der Sterbende nach den herrschenden Regeln immer um den Hals tragen müsste. Sein Pech, wenn nicht. Wenn ich ihm ohne Liquidationsnummer helfe, killen sie mich. Erst wenn er praktisch schon tot ist, greift eine ethische Ausnahmeregelung, die mich aber einen ganzen Feierabend Bürokratie wegen der horrenden Dokumentationspflicht kostet. Wenn wir alle Patienten nach unserem Gewissen behandeln würden, bräche das System zusammen.“
Der Code of Conduct weiht sich der Effizienz, nicht dem Höchsten. Regelgerechtes Verhalten hat nun nur noch beiläufig mit Ethik zu tun.
Das, was unbedingt sein muss, wird möglichst billig hergestellt. Deshalb darf nie mehr getan werden als unbedingt sein muss. Es wird ganz genau nur das geliefert, was bezahlt wird. Abweichungen werden gnadenlos bestraft. Eine Bankangestellte bekam neulich eine Abmahnung, weil sie sich von einer Nachbarin direkt in der Bank hatte anrufen lassen. Kunden müssen das Call-Center anrufen und zehn Minuten erklären, wer sie sind!
Es ist niemand vorgesehen, der im Einzelfall weise urteilt und handelt. Der Bäckermeister könnte all den Bäckereigehilfen den unverkauften Kuchen mitgeben, die niemals schummeln. Der Filialleiter könnte sinnvolle Regelüberschreitungen bejahen, weil sie treue Kunden erhalten. Ärzten könnte im Einzelfall erlaubt sein, den Hippokratischen Eid zu beachten. Lehrer könnten einzelnen Schülern aufhelfen. Die Regeln und Prozesse der Arbeitsvorschriften aber wollen keine Einzelfälle mehr, weil ihr Abwägen und Behandeln zu viel Geld, Zeit und Sachverstand („Weisheit“) kostet.
Das weise Richten ist schwierig, das Henken kann fast automatisiert werden. Manager, die das gut verstanden haben, flehen ethische Mitarbeiter heute fast schon an: „Stell doch nicht immer Sinnfragen! Es hat keinen Sinn. Tu, was getan werden muss. Ich verstehe dich ja auf einer höheren Ebene als Restmensch, aber als Manager will und kann ich nicht verstehen. Ich bin nicht der, der Zeit zum Abwägen hat. Ich bin der Finalizer, ich bin Executive, ich bin Kommando.“
Der ethische Mensch zwischendrin versucht noch eine Weile, nach Feierabend
auf eigene Kosten ethisch wertvolle Arbeit zu leisten. Er tut in seiner
Freizeit mehr als er muss. Er tut, was er nach eigenem Gefühl
oder Gewissen tun soll, damit er sich selbst als sinnvoll empfindet.
Das aber merkten die Herrschenden bereits! Sie sahen, wie er am Abend
arbeitete, der ethische Mensch, und nun geben sie ihm neue Arbeit
für die Nacht von der normalen Art, wie sie normal getan werden
muss. Und irgendwann, in der Nacht, lässt er los – vom
Sinn. Er ist gerichtet – genau, wie er sein soll.