Das Panopticon (Daily Dueck 23)

„Big Brother is watching you!” Orwell 1984. Es geht um den Schrecken der Überwachung. Orwell hatte keinen richtigen Sinn für Effizienz. Wer hat denn so viel Zeit zum Zuschauen?

Eckhard Umann hat mich dazu gebracht, das Buch Überwachen und Strafen des französischen Philosophen Michel Foucault zu lesen. Wer sich anschließen will, schaue einmal hier:

Überwachen und Strafen

Es beginnt mit authentischem Gruseln, wie Schergen versuchen, jemanden mit untrainierten Pferden zu vierteilen. Pferde bleiben ja normal stehen, wenn es nicht weitergeht. Sie zerren doch nicht in eine abstrakte Richtung! Nach ein paar Versuchen mit der Peitsche bittet endlich der Delinquent, doch etwas angeschnitten zu werden … Na ja. Ich konnte noch weiter lesen. Foucault berichtet, wie sich die Machtausübung im Laufe der Zeit verändert hat. Früher zeigte sich die Macht in Waffen und Goldkleidern, erhob die Stimme zum Volk und verkündete. Es gab Bier und Brot, man warf die Reste an den Pranger und henkte ein paar Sünder. Die Macht war offen anwesend und demonstrativ. So ein System ist aber nicht effizient, nicht wahr? Wenn die Macht ab und zu anwesend sein muss, kann sie allenfalls Länder von der Größe eines Wahlkreises wirklich kontrollieren oder sie muss überall Fürsten einsetzen.
Das Buch trägt den Untertitel Die Geburt des Gefängnisses. Früher wurde man nur selten gefangen genommen. Hand ab! Ein paar zehn Hiebe! Fertig. Heute wird man nur noch ins Gefängnis gesteckt. Sagt Foucault. Das Buch ist ja schon 1957 erschienen. Foucault starb 1984.
1957! Da gab es noch keine Geldstrafen, keine Computer und keine richtige Arbeitspsychologie! Schade, da wäre das Buch sicher anders ausgefallen.
Was mich am meisten an dem Buch bewegt hat, ist die Schilderung des Panopticons (von pan und opticos wie Gesamt-Schau). Im Deutschen kennen wir das Panoptikum wie Kuriositätenkabinett, das meine ich nicht!
Ich meine das Panopticon von Jeremy Bentham. Es ist ein Gefängnisbau-Prinzip. Die paradigmatische Konstruktion ist von Bentham in einer Reihe von Einzelschriften und Briefen beschrieben und kommentiert worden. Ich gebe Ihnen die Literaturstelle. Sie ist in sich sehr interessant. Lesen Sie bitte genau.

Bentham, Jeremy, Panopticon: or, the Inspection-House : Containing the idea of a new principle of construction applicable to ... penitentiary-houses, prisons, houses of industry, work-houses, poor-houses, manufactories, mad-houses, hospitals, and schools. With a plan of management adapted to the principle / In a series of letters, written ... 1787, from Crecheff ... to a friend in England. Dublin : Thomas Byrne, 1791.

Es geht um die effiziente Beaufsichtigung von … tja, rotzfrech gesagt, von „armen Schweinen“. Ich glaube, das trifft es am besten, wenn man sich mit dem Panopticon näher befasst. Was ist nun ein Pan-opticon? Ich habe jetzt etwas Bedenken, öffentlich Bilder zu stehlen. Darf ich Sie bitten, bei Google auf Bildersuche zu klicken und dort Panopticon einzugeben? Dann sehen Sie:

Bilder des Panopticon

Ich beschreibe es mit eigenen Worten. Stellen Sie sich ein großes Fußballstadion vor, in dem die Zuschauer ausschließlich nur in Promi-Logen mit Ganzglasscheibe zur Mitte sitzen. Wir nehmen den Rasen aus dem Stadion heraus und setzen einen Wachturm auf den Mittelanstoßpunkt. Dort wird ein um 360 Grad drehbares Teleskop montiert, mit dem ein einziger Wächter alle Zuschauerlogen inspizieren kann. Das Teleskop selbst ist für die Zuschauer kaum sichtbar, und der Wächter aber ist ganz bestimmt unsichtbar. Bentham nennt seine Konstruktion auch „Inspection House“. Hier sind unsere Zuschauer nur eben nicht Zuschauer wie im Stadion, sondern Gefangene in Zellen oder ganz generell „Beaufsichtigte“.
Die Konstruktion war ursprünglich für seinen Bruder gedacht, der den Fürsten Potemkin bei der Industrialisierung der Ukraine beriet. (Dieser Fürst ist der, dem die geschichtliche Lüge der Potemkinschen Dörfer bis heute anhängt. Er war ein sehr tüchtiger Manager.) Die Benthams wollten das Problem lösen, wie ganz wenige „qualifizierte“ Engländer möglichst große Massen von Arbeitern überwachen könnten. Die Idee war: Wenn sich Menschen immer beobachtet fühlen, werden sie sich selbst disziplinieren und reibungslos arbeiten. Da der Wächter nicht sichtbar ist, wissen die Menschen nur, dass sie möglicherweise beobachtet werden, nicht aber, wann oder ob überhaupt. Sie haben Angst. Im Grunde reicht schon das bloße Vorhandensein des Fernrohrs für nieder ziehende Furcht aus. In dieser Weise kann eine Teilzeitkraft große Mengen von Gefangenen, Arbeitern, psychisch Kranken oder Schülern inspizieren – weist Bentham 1791 nach. Nach dem Vorbild seiner Originalkonstruktionen wurden tatsächlich Gefängnisse gebaut.

Die Macht erscheint in diesem System nicht mehr laut oder im Goldgepränge. Sie ist unsichtbar und grau – fast nicht da! Die Überwachten aber leben in ständiger Furcht, dass die unsichtbare Macht zugreift. Damit kehren sich die Verhältnisse um! Die Macht ist im Dunkel, der Untertan steht im eingebildeten Licht. „Gott sieht alles!“, so sagt man in anderen erfolgreichen Modellen und installiert Radarkontrollen. Ich stehle jetzt doch einmal, aber in einer Dichtung und verändere ein ganz klein wenig die Wortwahl – und ziehe damit das Messer:

Und der eine steht im Dunkeln,
Und die andern stehn im Licht.
Doch man sieht nur die im Lichte,
Den im Dunkeln sieht man nicht.

Merken Sie etwas? Die, die im Licht stehen – die, die das Fernrohr trifft, zu denen kommt das Finanzamt, die stehen rot markiert im Excel-File, die werden mit einem Minus im SAP stigmatisiert, die werden als D-Kunde in einem Siebel-System vernichtet. Es droht uns ein Review, eine Untersuchung, eine Prüfung. Etwas Unsichtbares übt Macht aus. „Ich kann die schlechten Zahlen erklären!“, rufen wir flehend unter dem gesenkten Pfeil, aber unsere Führungskraft zuckt resigniert mit den Achseln. „Auch ich“, sagt sie, „auch ich bin unter Beobachtung. Auch ich bin getrieben vom Licht auf mich. Niemand kann etwas tun. Das System nimmt keine Einwände entgegen.“

Ach, Michel Foucault (Panopticon), Sie hätten noch die PCs miterleben müssen und die kommenden Human Resource Planning Systeme.

Da fällt mir ein: Wenn Menschen vor dem Fernrohr Angst haben, was tun sie dann? Sind sie innovativ? Vertrauen sie der Nachbarloge? Sprechen sie miteinander?
Wir lernen immer, dass wir im Informationszeitalter leben. Wissen! Lernen! … Oder Videoüberwachung?
Man macht uns abstrakte schwache Angst und Stress. Panopticon.

Und der eine steht im Dunkeln,
Und die andern stehn im Licht.
Doch man sieht nur die im Lichte,
Den im Dunkeln gibt es nicht.

Aber sein Abdruck ist in uns selbst. Er brennt sich über das ein, was wir Gewissen nennen.

Gunter Dueck

© 2005 Gunter Dueck l design: nukke.de (ad+bvp)