Links im Sinnraum
Muskelsprache des Ich (Daily Dueck 20)
„Dein Gesicht spricht Bände!“, sagen wir, wenn jemand sorgenvoll ausschaut, aber finster behauptet, fröhlich zu sein. Der will nämlich fröhlich aussehen! Aber wir durchschauen das doch. Oder? Oh, gerade lächelt mir mein Chef zu. Es bedeutet – ja, was?
Der französische Neurologe Duchenne de Boulogne beschrieb als erster im späten 19. Jahrhundert das Lächeln in der Muskelsprache. Das authentische Lächeln wird durch zwei verschiedene Muskeln im Gesicht geformt: Der Zygomaticus Major zieht vom Backenknochen her den Mundwinkel hoch. Der Obicularis Oculi Muskel umgibt das Auge – er zieht die Augenbrauen und die Haut unterhalb der Augenbrauen hinunter, und er hebt die Haut unterhalb des Auges und die Backen an.
Und so kommt die Wahrheit ans Licht: Der erste Muskel wird vom Menschen gut beherrscht. Der zweite dagegen ist unserer Kontrolle entzogen, er kontrahiert nur bei spontaner Freude. „Bei herzlichen Emotionen der Seele“, sagt Duchenne. Wussten Sie das? Probieren Sie es! Sie können den Grinsmuskel sofort anziehen – aber den anderen? Das schaffen Sie nicht! Ich weiß es, ohne dass ich Sie kenne – denn es geht ja nicht. Jetzt weiß ich aber auch, warum sich manche Mitglieder unserer Familie nicht fotografieren lassen. Es erzeugt in ihnen keine genuine Freude und deshalb grinsen sie nur mit dem einen Muskel. Da kann ich locken, wie ich will. „Bitte recht freundlich! Hey, ich meine, ihr sollt freundlich SEIN, nicht nur freundlich gucken wollen!“ Diesen Unterschied verstehen die Leute nur leider nicht. Es ist wie der Unterschied zwischen Höflichkeit und wirklichem Takt oder Zuvorkommenheit/Aufmerksamkeit. Es ist wie der Unterschied zwischen Wissen und Bildung.
Überall ist dieser Unterschied! Zwischen dem Authentischen und
dem Künstlichen. Zwischen dem Herzlichen und dem Professionellen.
Zwischen Anteilnahme und angemessenen Worten.
Sehen Sie auf die Muskeln der Politiker und Manager! „Wir erhöhen
die Steuern, es tut uns leid.“ – „Auf Grund einer
betriebsbedingten Störung haben heute alle Züge Verspätung
von zwei Stunden. Wir freuen uns darüber sehr, denn wegen dieser
Gleichmäßigkeit werden alle Anschlusszüge erreicht.“
- „Unser Gewinn für nächstes Jahr wird sehr gut werden,
meine Damen und Herren, weil wir Ihnen das Weih-nachtsgeld gestrichen
haben. Der Erfolg des Managements ist damit schon heute sicher.“
Dazu lächeln sie alle, aber nie mit dem Obicularis Oculi.
Manche von Ihnen lächeln ja auch nur mit dem Zygomaticus Major, dann verstehen Sie meine Bemerkungen eventuell nicht und denken bei sich: „Es ist passiert und ich finde es gut, dass sich die Bahn an jedem Bahnhof entschuldigt und so über die Aussteiger freut.“ – „Ich finde es gut, dass sich der Chef so überschwänglich für meine Arbeit bedankt hat, als er mich rausschmiss. Er sagte, sie würden mich sehr vermissen und mir das sogar durch eine gekünstelte Schlussfloskel unter meinem Zeugnis offiziell schriftlich bestätigen. Das macht mir die Sache leicht.“ Uiiih, denken Sie so? Dann können Sie offenbar das Spiel der Muskeln nicht wirklich beurteilen. Ich wüsste zu gerne, ob das stimmt – dass ganz viele von Ihnen echt nicht wissen, ob das Lächeln ein Fake ist oder nicht.
Ich habe einen Test im Internet gefunden. Zuerst wurde ich gefragt, wie sicher ich darüber bin, dass ich weiß, wer was zu lachen hat. Ich war mir total sicher, aber das Herz rutschte mir schon ziemlich weit in die Boss-Jeans. Hier sind die anderen Fragen!
Ich war ja so erleichtert, dass ich fast alle Fragen richtig beantworten
konnte! Ich kann echt echtes Lächeln vom Fake unterscheiden!
Juhu! Ich freu mich so! Mein Obicularis Oculi zuckte vor Wonne. Aber
dann stutzte ich. Ich ärgere mich nämlich ganz oft über
die schreckliche Falschheit, die meist mit Professionalität entschuldigt
wird. Über den vielen Dank und das entsetzlich viele Verständnis.
Und die anderen Leute sagen resigniert, ich soll mich nicht so tierisch
aufregen. Aha, dann merken die das vielleicht gar nicht? Weil die
den Test nicht bestehen? Und ich muss alleine leiden? Und ich kann
es niemandem erklären, dass wir alle von den jeweils Führenden
und Bedienenden fast nur vershowkelt werden? Faken denn fast alle?
Halten fast alle Fakes für echt? Wo bin ich?