Irrationalisierung (Daily Dueck 189, April 2013)

Rationalisierung heißt eigentlich „vernünftig machen“, „wirtschaftlich durchführen“ oder „sinnvoll gestalten“. Wir alle sind so sehr rationale Wesen, dass wir unsere Handlungsweisen stets rational begründen können oder wenigstens „rationalisieren“, also im Nachhinein unseren Handlungen Vernunft einzuhauchen vermögen. Wenn sich aber nur Misserfolge einstellen? Da werden die das Ego schonenden Erklärungen für unsere Taten immer „unwahrscheinlicher“. Es muss etwas „Irrationales“ hinter allem stecken. Zuhörer sagen dann immer öfter: „Glaubst du das selbst?“

Frust-Mitarbeiter: „Da ist eine Verschwörung von oben im Gange, sie haben alle den Plan, mich zu mobben, sie lachen hinter meinem Rücken – ich weiß nicht, warum. Das Management würdigt meine Leistungen nicht, sie wollen mich absägen, weil ich vielleicht das eine oder andere Mal zu ehrlich gewesen bin. Die da oben haben keine Ahnung, sie hatten noch nie Ahnung. Die Beförderungen in der Firma sind vollkommen schleierhaft, da wäre ich fast in jedem Falle besser. Nur gierige und scheinheilige Schleicher kommen hoch, Babbelköpfe und Angeber.“
Frust-Manager: „Ich habe nun wirklich alles getan, es mit Zuckerbrot und Peitsche versucht. Ich habe mit Engelszungen auf alle meine Mitarbeiter eingeredet und die Konsequenzen angedroht, wenn die Leistungen so schlecht bleiben. Nichts. Sie bekommen den Hintern nicht hoch. Sie sind nicht begeistert. Ich bekomme so langsam einen Hass auf sie, aber ich lasse es mir nicht anmerken. Ich verstehe einfach nicht, warum wir nicht mehr verkaufen. Es fehlt an Einsatz und Verantwortlichkeitsgefühl. Manche von ihnen haben sogar noch Hobbys und mehr als zwei Kinder. Das Schlimme ist, dass ich wegen der de facto Arbeitsverweigerung in meiner Abteilung meine Karrieresegel streichen muss. Wahrscheinlich ist es das. Sie wollen mich absägen. Dabei kenne ich keinen besseren Manager. Worauf hoffen die denn?“

Das alles kann endlos fortgesetzt werden. Schüler werden oft „fertiggemacht“, etliche Lehrer ergrimmen, weil ihre Schüler „gar nicht mehr erreichbar“ sind. Viele Eheleute erzählen voneinander nur das ätzend Böseste. Was sie alle sagen, kann im Einzelfall durchaus zutreffen, ja! Ganz klar! Kann es! Aber sehr viele von ihnen irrationalisieren – und das ist ein ganz großes Problem für Leute, die wirklich und wahrhaftig gemobbt und abgesägt werden. Da die Irrationalisierer in der Anzahl massiv überwiegen, glaubt man auch denen nicht, die im Recht bzw. in tatsächlich aussichtsloser Lage sind. So sehr viele Irrationalisierer spielen so echt den Ertrinkenden, dass man die wirklich Wasserschluckenden oft untergehen lässt. Schwalbe oder Elfmeter?

In Bewerbungsgesprächen blubbern aus Stellensuchenden häufig ganze Hasstiraden gegen den früheren Arbeitgeber heraus. Als Interviewer müssen Sie nur einmal fragen: „Was liebten Sie an Ihrer vorigen Stelle am meisten?“ Und gleich anschließend: „Warum bewerben Sie sich dann hier?“ Die Bewerber schimpfen manchmal absolut rüde über frühere Chefs! Wie gesagt – damit sägen sie sich natürlich selbst ab. Man bekommt leider den Eindruck, dass sie das eigentliche Problem, das sie haben, an die neue Arbeitsstelle mitbringen werden. Man spürt an den Irrationalisierern, dass sie einfach an der früheren Stelle nicht klarkamen. Man nimmt besonders Managern, die eine „neue Herausforderung suchen“, nicht ab, dass ihr Misserfolg nur dem mangelnden Einsatz der Mitarbeiter zuzuschreiben ist. Man nimmt Eltern, die wüst über ihre ungeratenen Kinder herziehen, nicht ab, dass alles an den Kindern liegt. Diese irrationalisierenden Kanonaden sagen eigentlich: „Ich selbst war ohnmächtig. Ich konnte und kann nichts tun. Ich bin Opfer. Es hat keinen Zweck. Mit rationalen Mitteln kann nichts mehr erreicht werden. Hier ist keine Veränderung möglich. Auch energisches Aufbegehren nützt nichts.“ Überforderte reden so.

Wenn man Freunde, Chefs, Mitarbeiter, Ehehälften, Bewerber oder Patienten so stark irrationalisieren hört, kann man versuchen, die Diskussion zu „versachlichen“. Sind nicht auch sie selbst ein bisschen verantwortlich für ihre als schmerzlich empfundene Lage? „Mann, liegt es vielleicht nicht nur an der Frau?“ – „Mitarbeiter, hast du echt alles richtig gemacht?“ – „Chef, warum wirst du denn kollektiv nicht gemocht?“

Ducken Sie sich bei einer solchen Frage lieber ein bisschen. Glatteis! Wenn es daraufhin wirklich zu einer „versachlichten“ Auseinandersetzung kommen sollte, beginnt jetzt in der zweiten Phase die wirkliche psychologische Rationalisierung, also eine saubere einseitig-parteiische Begründung, warum alles so schlimm werden musste. Die logischen Gründe werden manchmal unterbrochen durch Seufzer wie: „Gut, da war ich aufgebracht und vielleicht ungerecht, aber muss man denn in meiner Lage nicht auch einmal aufbrüllen?“ Hinter diesen halb versteckten „ja, gut, da war ich vielleicht etwas…“ schimmert die Tragik hervor.

Im Augenblick ist vieles von Hass getränkt. Die Banken, die Manager und die Politiker haben uns – so steht es überall – in einen Sumpf von Rücksichtslosigkeit, Macht, Gier und Arroganz getrieben. Die Armut nimmt zu. Das ganze Geld haben die da oben verzockt. Der kleine Mann muss bezahlen, in Zypern und bald auch anderswo.
Warum aber wählen wir die, die immer nur neue Schulden machen wollen? Warum kaufen wir Zertifikate, die wir nicht verstehen? Warum lassen wir untätig die Banken davonkommen? Warum treten wir aus Kirchen und Gewerkschaften aus? Warum engagieren wir uns nicht? Warum boykottieren wir nicht als Käufer solche Unternehmen, die nicht ethisch handeln – da hätten die doch kaum noch etwas zu schleckern! Warum werden Diskussionen im TV nur zu unserem emotionalen Mitwüten aufgeputscht? Warum dient Politik nur noch der Zerstörung des Gegners im Parlament? Warum überlassen wir das Feld den Irrationalisierern? Der passiven, bloß laut geäußerten Wut?
Da sagen so viele: „Wir sind Opfer, der Einzelne KANN nichts tun. Wir sind ohnmächtig. Wir haben Angst um unseren Arbeitsplatz. Wer etwas tut, ist raus, das ist sicher, ganz bestimmt.“ Und dann, dazwischen: „Ja, stimmt schon, wir sind feige. Wir wissen schon, dass eigentlich wir Bürger Deutschland sind. Aber was sollen wir tun? In einer Demokratie ist der Bürger nun einmal ohnmächtig, aber sie ist immerhin die beste Staatsform – wir können also nichts zum Besseren verändern.“
Da sagen zu viele unserer Bosse: „Wir werden von Google, Amazon, dem Internet, von Samsung, und anderen überrannt. Wir bekommen Angst. Man müsste etwas tun. Wir sind aber ohnmächtig gegen solche Kolosse. Ja stimmt, das waren immer nur zehn Angestellte vor fünfzehn Jahren, ja stimmt, wir haben gelacht und danach gut geschlafen. Ja, stimmt, wir haben unsere Hausaufgaben nicht gemacht. Wir haben so viel versäumt! Kann man nun fordern, dass wir echt alles wieder aufholen? Ist das nicht zu viel verlangt? Was sollen wir tun?“

Mit dem Irrationalisieren aufhören, dann uns nüchtern im Spiegel anschauen. Und das Richtige anpacken. Hellhörig werden, wenn die da oben sagen: „Die Lage ist zwar schlimm, aber wir sind auf dem richtigen Weg.“ Sie suggerieren, dass wir nicht nur den richtigen Weg kennen, sondern ihn auch gehen. Gehen wir schon, oder stehen wir noch? Wer viel schimpft, steht im Mist. Auch, wenn der Mist in Deutschland ein höheres Niveau hat.

Gunter Dueck

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