Diagnose DumbDown – der unterforderte Schüler (Daily Dueck 188, März 2013)

Kennen Sie die „Diagnose Boreout“? So heißt ein Buch von Rothlin/Werder aus dem Jahre 2007, das sich mit unterforderten Arbeitsnehmern befasst, die sich zunehmend bei der Arbeit langweilen – ihre Arbeit ist ihnen viel zu simpel. Viele von diesen Mitarbeitern verrichten ihre Arbeit trotz oder eben wegen deren Einfachheit eher schlecht, weil sie so irre lustlos sind. Da hält sie ihr Chef für unfähig und dumm. Todesspirale.

Der Chef sieht jetzt nämlich, dass die gelangweilten Mitarbeiter selbst einfachste Aufgaben nicht gut erledigen können. Deshalb gibt er ihnen noch Blöderes zu tun. Das frustriert sie weiter und läutet die nächste Runde ein. In diesem Sinne kann zu viel Routinearbeit im tatsächlichen Sinne geisttötend sein.
Dieses Phänomen sieht man doch auch in der Schule! Ich habe gleich bei Google unter „Boreout Schule“ gesurft und praktisch nichts gefunden.
Hallo? Warum wird nur über den Arbeitsplatz berichtet? Kann nicht auch der unterforderte Schüler in die Lage kommen, einen zu langsamen Unterricht zu hassen, so dass er jedes Interesse verliert, immer müde ist und durch frustrierte Zwischenbemerkungen den Unterricht stört?

So könnte es zu dem „Drama des hochbegabten Kindes“ kommen. Es findet alles zu simpel, es fühlt sich fehl am Platze, weil die Eltern ihm schon viel beigebracht haben. Es stöhnt: „Das kann ich doch schon.“ – „Ich habe es doch schon bei der ersten Erklärung verstanden.“ Solch ein Kind haut dann die Hausaufgaben aus Frust viel zu lässig hin und fängt sich die Kritik des Lehrers ein, dass es die einfachen Aufgaben nicht richtig löst, obwohl es immer im Unterricht herumtönt, alles sei klar. Der Lehrer gibt dem Kind also einfache Aufgaben oder noch einfachere und besteht auf einer exakten Abarbeitung. Irgendwann kommt es zur „Diagnose DumbDown“.

Bei Hochbegabten oder richtig guten Mitarbeitern gibt es noch eine höhere Variante dieser Todesspirale. Ich habe dieses Argument schon in meinem Buch Professionelle Intelligenz angemerkt. Stellen Sie sich einen Gymnasiallehrer mit einem IQ von 110 vor, dessen Schüler nur auf einen IQ von 80 kommt. Da wirkt der Schüler auf den Lehrer so etwas wie „unterbelichtet“. Wenn ich dem Lehrer nun die Aufgabe erteile, diesen Schüler zum Abitur zu führen, so wird er sich weigern, weil der Schüler von seiner Begabung her das Niveau des Abiturs einfach nie erreichen wird, auch nicht nach hundert Jahren Lernanstrengung. Der Lehrer versteht, dass ein so niedriger IQ einfach QUALITATIV nicht ausreicht, um Abituraufgaben jemals zu meistern. Diesen qualitativen Unterschied habe ich mit Lehrern öfter diskutiert. Sie stimmen zu – wie jeder andere und Sie auch.
Dann fragte ich die Gymnasiallehrer („einen mit IQ 110“), wie sie sich nun die Zusammenarbeit mit einem hochbegabten Schüler vorstellen, der zum Beispiel einen IQ von 140 hat. Ist es dann nicht so, dass jemand mit IQ 140 einen anderen mit IQ 110 für entsprechend „unterbelichtet“ hält? Huuh, da bäumen sich die Lehrer auf! Sie behaupten nun, dass eine höhere Intelligenz als ihre eigene nur QUANTITATIV besser ist – Schüler mit IQ 140 lernen schneller und auch mehr Stoff. Die Lehrer bestreiten aber, dass es geistige Höhen gibt, die der Hochbegabte erklimmen kann, die ihnen selbst aber selbst nach hundert Jahren des Lernens prinzipiell verschlossen bleiben müssen.

So kommt es zum Drama des Hochbegabten: Er stellt im Unterricht Fragen, die für den Lehrer irgendwie zu weit gehen. „Das schweift ab“, sagt er oder er gibt falsche Antworten, die der Hochbegabte irgendwie unbefriedigend findet – er fragt weiter nach und bohrt. Der Lehrer kann die Fragen wegen des Intelligenzunterschiedes nicht wirklich verstehen und windet sich heraus. Der Schüler ist enttäuscht und auch heimlich ärgerlich. Er denkt nach und findet immer mehr Ungereimtheiten, die aber nie zufriedenstellend aufgelöst werden. Leider ist der Lehrer für ihn eine große Autorität. Er nimmt an, dass der Lehrer klüger ist als er. Lehrer wissen alles! Warum antwortet dann der Lehrer nicht besser? Der Lehrer selbst denkt auch, dass er mindestens so intelligent ist wie der Schüler und versteht das Problem nicht. Nach und nach geraten sie in argumentative Kämpfe, die sich nie auflösen. Da reagiert der Lehrer mit Mahnungen und der Schüler mit Protest. Zum Schluss wird der Schüler (auch von anderen Schülern) als störend empfunden und „in die Ecke gestellt“, er ist ja nun sozial auffällig geworden.
Wie gesagt - diese Todesspirale des Dumbdown habe ich mit Lehrern im Zusammenhang mit Hochintelligenten besprochen. Sie entgegnen im Durchschnitt etwa so: „Wer hochintelligent ist, wird doch zuerst gute Noten haben, oder? Wozu ist er denn hochintelligent? Zugleich wird der Hochintelligente sich gut benehmen! Er wird doch nicht dumm sein! Erst dann, wenn er glänzend dasteht, wird er zu mir kommen und von mir besondere Förderung erbitten, die ich dann gerne gebe. Aber dieser Widerling da, für den Sie sich unberechtigt stark machen, benimmt sich absolut schlecht und stört ständig den geordneten Ablauf des Unterrichtsprozesses. So etwas macht ein Hochintelligenter nicht!“ Fazit des Systems: Erst muss man sich als Ziegelstein einpassen, dann besonders bewähren und Lob einheimsen und dann erst darf man erhoffen, eine kleine Extrawurst zu bekommen.

Dieses Drama gibt es auch mit Hochleistungsmitarbeitern, die einen relativ schlechteren Chef haben. Sie wollen zum Beispiel mit diesem Chef über tolle Ideen, über Innovationen und neue Arbeitsprozesse sprechen. Er aber versteht die Ideen nicht und wird ärgerlich über die lästigen Besserwisser in seiner Abteilung, die immerzu mit unausgegorenen Vorschlägen kommen, die er allesamt (weil er niederintelligent ist) für unrealisierbar hält. Da werden seine Höchstleister aggressiv, er stuft sie bei Leistungsbeurteilungen tiefer. Todesspirale – na nicht ganz. Die Top-Performer können sich ja versetzen lassen oder kündigen. Das hochbegabte Kind nicht. Es kann seine Eltern um Hilfe bitten – die aber sind meist selbst nicht hochbegabt …

Vielleicht haben Sie (das sehe ich bei vielen) einen heimlichen, ganz grundsätzlichen Hass auf Intelligenzquotienten und trauen so abstrakten Argumenten nicht. Auch damit habe ich schon Erfahrungen gesammelt. Lassen wir deshalb einmal den IQ sein und wechseln wir zum EQ, zur emotionalen Intelligenz, durch die sich nun auch viele Lehrer und besonders Chefs nicht gerade auszeichnen. Solche wenig emotional Begabten beleidigen und dissen, informieren ungeschickt bis gar nicht, kehren den Vorgesetzten heraus und meinen explizit nicht, dass sie „nett“ sein müssten, weil sie dadurch an Autorität verlieren. „Man muss die Untergebenen auf Distanz halten“, sagen sie oft. Sie ersetzen gelungene symmetrische Kommunikation durch hierarchisch autoritäre.
Verstehen Sie jetzt in diesem Kontext, wie sehr das Betriebsklima stirbt oder die Klassengemeinschaft schwindet, wenn der Vorgesetzte nur wenig emotional intelligent ist? Haben Sie je versucht, ihn dahin zu bringen, die Seelen unter ihm bei froher Stimmung zu halten? Sind Sie vielleicht Meeting für Meeting und Elternversammlung für Elternversammlung an emotional Unterbelichteten gescheitert? Sehen Sie denn nicht die vielen emotional nicht intelligenten Politiker, die mit emotionalen Dummheiten ihre Karriere beenden?
Ich will sagen: Beim EQ ist das Problem fast jedem klar, beim IQ drücken sich alle vor einer nüchternen Sicht. Gelöst wird auch das erkannte Problem kaum. Emotional schwache Vorgesetzte lässt man aus Angst gewähren und legt sich lieber eine Depression oder wenigstens Rückenschmerzen zu. Die Todesspiralen drehen sich hier bei vollem Bewusstsein der emotionalen intelligenteren Mitarbeiter. Die Schüler aber wissen das ja nicht, sie glauben ja an ihren Lehrer…

Wir reden lieber über Burnout, wenn sich also jemand überfordert oder überfordern lässt und ausbrennt. Der „hat selbst Schuld“ und muss in die Klinik. Diagnose DumbDown aber wird übersehen, man müsste ja etwas an einer schwierigen Obrigkeit tun. Da kneifen wir alle am besten und werden dann selbst schwierig – wie die, die uns das täglich einbrocken.

Gunter Dueck

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