Akute Notbehandlung des Chronischen unter Motivationsmangel (Daily Dueck 186, Februar 2013)

In einem Medizinbuch hieß es: „Viele Patienten kommen mit akuten Problemen, auf die der Arzt augenblicklich reagieren muss und kann. Wenn diese Sofortrezepte aber dauerhaft nicht helfen, kann etwas Chronisches oder Problematisches vorliegen, wozu der Arzt tiefer in die Leidenshistorie des Patienten eintauchen muss.“ Klar, oder? Wer sich den Magen verdorben hat, nimmt Tabletten – fertig und gut. Wenn die Beschwerden aber nach Wochen nicht abklingen? Was tun wir dann? Aber besten suchen wir uns einen neuen Arzt.

Hat jemand unter dem Druck des Tagesgeschäftes noch Zeit, in eine Problemhistorie einzutauchen? Politiker bekommen üblicherweise eine rituelle Frist von hundert Tagen, sich in die Komplexität eines neuen Amtes einzuarbeiten. Bei Bundesligatrainern muss der Erfolg ja schon nach – sagen wir – dem übernächsten Spiel zählbar vorliegen, im Management wird kein Quartal gewartet, das wäre ja mehr als neunzig Tage!
Es ist üblich geworden, sofortige Resultate sehen zu wollen. Wer unmittelbare Erfolge zeigen muss, mag unter diesem Diktat stöhnen, aber er muss nun nicht lange nachdenken, was zu tun ist, weil es augenblickliche Erfolge nur mit ganz wenigen Methoden geben kann. Draufhauen! Schwermedikamente verschreiben! Die bisherige Behandlungsmethode radikal verändern! Alle Leute austauschen – Trainer, Ärzte, Manager. Die Schule wechseln, sich woanders bewerben, ein anderes Fach studieren.

Der Vorteil von diesem ganzen wilden und energischen Trubel ist es, dass dauernd etwas Dramatisches geschieht. Das gibt Hoffnung. Wer das Studium abbricht und ein neues beginnt, wer die Arbeit hinschmeißt, hat an neuer Stelle wieder neue Lust. Wer einen neuen Chef bekommt, kann heimlich erwarten, mit diesem Chef nun endlich gut klarzukommen. Neue Lehrer, neues Glück – das Glück besteht darin, wieder mit einem unbeschriebenen Blatt anfangen zu können. Der neue Arzt hat eine andere Meinung als der alte, da ist klar, dass sich die neue Behandlung gut anfühlt, weil ja die alte nicht gelingen konnte. Da war es gut, sich „eine zweite oder dritte Meinung einzuholen“, wozu heute immer geraten wird.

Unsere Erwartung sofortiger Wirkung scheint darauf hinauszulaufen, dass wir alle Probleme wie akute Probleme anschauen und mit Sofortmaßnahmen traktieren. Schlechte Noten? Schulwechsel. Schlechte Zahlen? Managerwechsel. Noch Beschwerden? Andere Pillen. Niemand mag noch nachschauen, ob nicht eine chronische Beschwerde vorliegt. Wie oft habe ich schon auf „hundert Bewerbungen geschrieben und die schuftigen Arbeitgeber laden mich nicht ein“ entgegnet: „Kann ich die Bewerbung einmal sehen?“ Wie oft habe ich nach neuen akut-kraftvollen Managementmaßnahmen gefragt, warum dieses Problem (meist ein inhärent kulturelles) sich gerade jetzt mit dieser Maßnahme dauerhaft bekämpfen lasse, wo es doch mit ähnlichen Maßnahmen seit nun schon 20 Jahren nicht geklappt hätte – wieder und wieder nicht?
Die Antwort ist immer: „Dieser Arzt, dieser neue Manager, dieses neue Studienfach, diese neue Bewerbung, diese neue Medizin ist der schon so lange erhoffte radikale Neubeginn.“

Kann es sein, dass der Bewerber seltsame Bewerbungen schreibt, oder noch schlimmer, dass er vielleicht selbst seltsam ist? Liegt es daran, dass nicht beharrlich genug studiert wurde? Dass das Unternehmen schon immer zu Innovationen keine Lust hatte?
Wieso traut sich niemand, diese Frage zu stellen: „Liegt ein chronisches Problem vor?“ Sie alle zittern vor den möglichen Antworten. Die hören sich so an: „Eine Lösung ist nur unter nachhaltiger Veränderung der Lebensumstände möglich, die nur unter erheblichen Anstrengun-gen erzielt werden kann.“ – „Es ist nichts mehr zu machen, der Markt ist schon zu weit weg und die Krankheit zu weit fortgeschritten. Es tut mir leid.“ – „Die Fähigkeiten des Unternehmens reichen gar nicht aus, es aus eigener Kraft (‚selbstbehandelnder Patient‘) zu schaffen.“ – „Es fehlt hier an der nötigen Motivation.“

Die letzte Antwort stimmt fast immer – irgendwie. Dann aber besteht das Problem darin, eine Lösung zu finden, die keine Motivation braucht, die also mit akuter Angst, Verzweiflung, Druck von oben oder mit sinnloser Hoffnung auskommt.

Und dann tun wir am besten immer so, als sei das Problem, vor dem wir stehen, total neu und bestürzend dringlich. „Schnell! Wer hat eine Sofortmaßnahme? Wir haben nur für zehn Minuten Brainstorming Zeit! Die Uhr tickt. Das Quartal endet, wir haben es mit Absicht so kurz gemacht, damit nicht wieder und wieder über Gott und die Welt nachgedacht werden kann.“

Das universelle Diktat des stückweisen Versagens klingt so: „Dieses Quartal ist entscheidend für unser Unternehmen. Es ist diesmal absolut entscheidend. Ich weiß, dass ich das schon oft gesagt habe, eigentlich immer. Aber es hat auch immer gestimmt. Es hat keinen Sinn, nach langfristigen Lösungen zu suchen, dann sind wir längst tot. Wir haben diesen Fehler nie begangen, wir leben ja noch. Das ist unsere Stärke, die wir nicht verlieren dürfen. Wir können einfach nicht konzentriert arbeiten – außer wenn das Quartalsende droht. Wir haben jetzt noch drei volle Tage, lasst uns tun, was jetzt unmittelbar ergebniswirksam ist, in diesem Moment. Es ist ein wundervolles Gefühl, sich kurz vorher zu retten. Mich hat dieser Kitzel schon fast süchtig gemacht. Es ist ein bisschen wie russisches Roulette. Kennen Sie den Film ‚Die durch die Hölle gehen‘?“

Gunter Dueck

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