„Ist besser, was teurer ist? Oder nur blöd?“ (Daily Dueck 184, Januar 2013)

„Nimm lieber das Teure, das muss mehr Qualität haben“, so sprachen meine Eltern. „Mit Billigem fällt man in der Regel herein. Es ist sinnlos, billiger davon kommen zu wollen. Was nichts kostet, ist nichts wert.“ Meine Eltern mussten von einer kargen Rente leben, aber sie kauften immer die höhere Qualität, die sie im Preis angezeigt fanden. „Da weiß man, was man hat!“ [Persil, VW] Heute braucht man fast das ganze Internet, um zu wissen, ob drin ist, was draufsteht.

Im ersten Semester Betriebswirtschaftslehrestudium hatte ich ein ganz, ganz großes Aha-Erlebnis. Das gebe ich ja zu. Wir mussten eine Frage beantworten.
Ein kleiner deutscher Betrieb stellt im Monat 10.000 Einheiten X her. Die Herstellung einer Einheit X kostet 4 Euro, sie wird für 5 Euro verkauft. Nun kommt eine Großanfrage aus Italien. Jemand möchte 40.000 X kaufen, er bietet 3,50 Euro (!) pro Einheit – nicht etwa 5 Euro. Frage: Was antworten wir denen aus Italien?
Unsere erste Reaktion war: Blöd, geht ja nicht, wenn die Herstellungskosten 4 Euro sind und der italienische Kunde nur 3,50 Euro bezahlen will. Wo bliebe da ein Gewinn? Einfach, oder? Das wusste ich intuitiv sofort und auf der Stelle. Und später dann mein roter Kopf – huiih, war ich aber dumm. Wir mussten nämlich nachrechnen.

Der Betrieb machte bei 10.000 Einheiten im Monat 50.000 Euro Umsatz, davon waren die meisten Kosten fix, nämlich die Maschinen, das Gehalt des Geschäftsführers und der Verwaltungskraft, die Miete für die Fertigungshalle, Licht, Heizung usw. Sie machten allein 25.000 Euro aus. Das reine Herstellen von 10.000 Einheiten X (Materialeinsatz, Geld für die Facharbeiter) kostete 15.000 Euro – das sind 1,50 Euro pro Einheit X.
Wir lernten, dass es fixe Kosten und variable Kosten gibt. Die „fixen Kosten“ sind „eh weg“, die variablen Kosten fallen nur bei der Produktion an.
Merken Sie es jetzt auch? Wenn man einfach mehr Material einkauft und einen Monat Nachtschichten fährt und damit die Maschinen voll auslastet, dann ergibt das Angebot aus Italien ein Bombengeschäft. Man hat 1,50 als Kosten pro Einheit – ach, etwas mehr, weil man doch die Maschinen häufiger warten muss und Nachtzuschläge an die Fachkräfte zahlt. Sagen wir: Man hat 2 Euro Kosten pro Einheit und bekommt 3,50 Euro zurück, auch nicht ganz, weil mehr Fracht anfällt – ich will hier nicht zu detailliert werden. Sie sehen aber: Es ist ein glänzender Deal!
Und ich habe mich damals für meine erste Antwort „doof, oder?“ furchtbar geschämt.

Wussten Sie das? Na, heute versteht man das wohl besser: Wenn die Auslastung der Produktionseinheiten steigt, kann man viel billiger produzieren. Klar. Jetzt kommt aber noch ein feiner Punkt, den wir damals wiederum allesamt übersahen. Dieser feine Punkt ist heikler. Der Auftrag kam aus Italien! Nicht aus Deutschland! Was wäre, wenn er aus Deutschland gekommen wäre? Da lernten wir, dass wir auf einen solchen Deal auf keinen Fall eingehen sollten, denn „das macht die Preise kaputt“. Italien ist okay, weil das weit weg ist (oder damals war). Verstehen Sie jetzt, warum deutsche Autos im Ausland oft billiger sind? Man lastet besser aus, und die billigen Autos sind weit weg.

Jetzt kommt die nächste Idee der Betriebswirtschaft. Sie heißt: „Italien ist überall.“ Wenn ein Betrieb zum Beispiel Supersuperlebkuchenherzen herstellt, die allerleckersten, die in Italien leider nicht nachgefragt werden, dann kann er die Lebkuchenherzen trotzdem in großen Stückzahlen herstellen und die Produktionsstückkosten senken, indem er nur die „echten“ Herzen zu 5 Euro pro Kilo verkauft und die anderen zu 3,50 Euro unter einem ALDI- oder LIDL-Namen, unter JA! oder „Gut und Günstig“, unter „unblöd“ oder „geizgeil“. Dadurch steigt der Gewinn des Lebkuchenherzenbetriebes unermesslich! Die echten und die billigen Herzen sind durch die Verpackung unterschieden, der Kunde muss denken, dass die Herzen für 3,50 Euro auch nur 3,50 Euro wert sind – und der Kunde zu 5 Euro muss fühlen, dass er Herzen zu 5 Euro isst. In dieser Weise ist alles gut. Statt „nach Italien“ ist das Produkt unerkannt ins Billigsegment exportiert.

Leider ist das Internet so global geworden, dass man mit dieser Masche nicht mehr bei allen Kunden durchkommt. Es sickert langsam durch, dass die Herzen und Zimtsterne bei ALDI & Co. baugleich sind. Jetzt beginnen wir Kunden, nur noch Lebkuchenherzen für 3,50 das Kilo zu kaufen und patsch! bricht der „Markenhersteller“ voll ein – und nicht nur dieser! Er zieht alle anderen Markenhersteller mit. Es geschieht genau das, was uns im ersten Semester beigebracht wurde: Man darf den Markt nicht „versauen“.
Im Internet war von Bahlsens Produktionsstopp zu lesen: „Der Markt für Herbstgebäck wachse kaum und werde von Handelsmarken dominiert, teilte Bahlsen zur Begründung mit. ‚Dies führt zu einem starken Preisdruck und zu einer nicht zufriedenstellenden Ertragssituation.‘“
Und weiter hieß es: „Unangefochtener Spitzenreiter ist der Aachener Printenspezialist Lambertz, der Saisonware sowohl unter eigenen Marken wie auch unter denen der Handelskonzerne verkauft.“
Sehen Sie? Einer der Hersteller geht auf „Italienstrategie“ und hat Erfolg, dann kaufen wir alle nur noch „Handelsmarken“ und alles geht seinen betriebswirtschaftlich klar berechenbaren Niedergang.

Wir Kunden sehen das jetzt überall – überall! Markenware gibt es unter Zweitlabels unter Umständen viel billiger verkauft. Wir fühlen uns übers Ohr gehauen. Wir werden misstrauisch. Was ist noch wahrhaft gute unimitierte Markenware? Nutella, Hermès oder Apple? Überall wimmelt es von Geklontem, selbst bei Persil schauen wir skeptisch, ob nicht Spee dasselbe ist (ist es nicht, aber glauben wir das?). Wir kommen uns blöd vor. Wir wissen nicht mehr, ob wir als Markenkäufer für dumm verkauft werden. Der Preis war für meine Eltern ein Indiz für Qualität. Heute ist das Bezahlen eines hohen Preises unter Umständen ein Maß für – na, für Blödheit oder eben Uninformiertheit. Und wir werden noch viel misstrauischer, wenn uns der Elektromarkt, bei dem man ja gemäß seiner Werbung gefühlt nie blöd war, jetzt in der neuen Werbung klarmachen muss, dass er nun wirklich tatsächlich und „idealo.de“-faktisch zu bestimmten Sonderangebotsmomenten echt billiger ist! Hey, war das denn nicht früher immer so?

Die Marken implodieren nun langsam alle, indem sie dem Weg der Massenproduktion für Zweitmarken erliegen. Die armen Hersteller! Und wir bekommen am Ende, weil ja sonst die Wirtschaft stirbt, wirklich nur 3,50 Euro für das, wofür wir 3,50 bezahlen – also schlechtere Qualität. Die Todesspirale dreht sich. Die Welt trudelt in ein neues Gleichgewicht. Immer schlechtere Produkte werden zu einem billigeren Preis hergestellt. Immer mehr wird gefaket und vermischt. Im Gleichgewicht bekommen wir nicht mehr die feinen Produkte, die wir eigentlich wollen, und die Hersteller machen nicht das Geschäft, womit sie gut leben können. Alle werden wir unzufrieden, Kunden und Wirtschaft. Dieser Zustand ist heute schon gut erreicht. Wir haben keine Inflation, weil es ja nur noch 3,50 Euro kostet, aber wir sind alle unzufrieden.

Haha, ich habe in meinem Studium in Volkswirtschaftslehre gelernt, dass im Gleichgewicht alle Marktteilnehmer zufrieden sind! Das erledigt nämlich angeblich die „Unsichtbare Hand des Marktes“ für uns, die Adam Smith vor so 250 Jahren gesehen haben will! „Wenn alle das Beste für sich selbst tun, kommt insgesamt das Beste für alle heraus!“ Hab‘ ich echt gelernt! Kann auch stimmen, aber wenn nun alle Hersteller gegen das verstoßen, was in BWL für Anfänger gelehrt wird, nämlich Sonderangebote nur sehr weit weg zu erlauben? Was, Ihr VWLer, kommt heraus, wenn alle etwas Dummes tun?

Ach, Adam Smith! Euer Gnaden haben wahrscheinlich mit einem Schreibfehler die Menschheit versaut! Ich glaube, es muss heißen (und so wird es Adam Smith auch gemeint haben):

„Wenn alle das Vernünftigste für sich selbst tun, kommt für alle etwas Vernünftiges heraus.“

So könnte es stimmen. Lasst uns das dem Management und der Politik erklären. Bisher glaubt man irgendwie, dass es MÖGLICH ist, dass alle Marktteilnehmer egoistisch handeln. Kann sein. Dass aber alle das Vernünftigste tun, ist ein nicht so ohne weiteres möglicher Zustand. Weil dieser feine Unterschied nicht erkannt wird, krankt die Welt. Ist es ein MÖGLICHER Zustand der Welt, in dem dieser Unterschied erkannt wird? Schiller fällt mir ein:

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“

Oder nach Goethe:

„Dass ein großes Werk misslinge, genügt ein dummes Stück auf tausend gute Dinge.“

Wird die Welt von Leuten bedroht, die „Einführung in die Betriebswirtschaftslehre“ nur mit halber Punktzahl bestanden haben?

Gunter Dueck

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