Links im Sinnraum
Über die typische Freiwahrheits-Piraten-Psyche oder über „INTP“ (Daily Dueck 183, Januar 2013)
Viele Berufe haben einen speziellen „Charakter“, auch Unternehmen haben so etwas. Man nennt es dort „Kultur“. Man kennt archetypische Mathematiker, DEN Beamten, DEN Oberlehrer, DEN Grünen. Ich glaube ja, der typische Pirat ist ein INTP (ein Testergebnis des MBTI), so ein brillanter Geist, etwas schizoid – äh, ich meine, er hat eine Haltung, die so hirngetrieben ist, dass das Herz als App simuliert werden muss oder auch nicht. Wenn das alles so ist – was bedeutet das? Das will ich hier für Sie erahnen.
Ich habe ja schon über die „Bloggerpsyche INFP“
geschrieben. Blogger haben oft ein weltbekümmertes und menschbesorgtes
Herz, was wahrscheinlich zu Zorn über die Welt und deren Sinnlosigkeit
führt, wenn man zu genau hinschaut. Blogger lieben den kleinen
Prinzen von Saint-Exupéry, deshalb sehen sie mit dem Herzen
gut, wenigstens versuchen sie, mit dem Herzen zu sehen oder sehen
zu lernen.
Piraten aber diskutieren alles aus. Der archetypische Pirat scheint
zu denken: „Der Mensch sieht nur mit dem Gehirne gut.“
Im Jahre 2005 habe ich einmal einen Aufruf gestartet, mir die Ergebnisse vom psychologischen MBTI Test zu schicken (den Link zu einer Gratis-Variante finden Sie zu Ihrer Selbsterfahrung auf meiner Homepage). Da haben massenweise Informatiker ihre Ergebnisse geschickt. Gut die Hälfte der Einsender waren „NT“, was „intuitive thinking“ bedeutet und auf „Rationalist“ hinausläuft. Ich schildere hier einmal ganz kurz, was INTP bedeutet, Sie können das überall im Netz nachlesen, in der Wikipedia nachschlagen oder eben hier:
INTP leben einen Großteil ihrer Zeit im Kopf. In ihrem Kopf
sind Ideen, Optionen, Theorien, Neuigkeiten, technologische Visionen,
nicht aber ein siebter Himmel mit Frauen und Festmählern. INTP
lieben das Problemlösen im Kopf. Sie wissen (sichtlich!) selbst,
dass sie brillant sind, so wie schöne Frauen sichtlich wissen,
dass sie schön sind. INTP sind überaus sicher, alles mit
ihrem Verstand lösen zu können. Während andere noch
unsicher sind, haben sie die Lösung der Probleme längst
als Theorie im Kopf.
Und jetzt kommt der heikle Punkt: INTP sind mit der Vorstellung der
richtigen Welt im Kopf schon ganz zufrieden. Sie können sich
„die Durchführung“ oder „den Rest“ schon
gut vorstellen. Sie zeigen deshalb oft die Wesensschwäche, an
der Realisierung ihrer Ideen nicht wirklich zu arbeiten. Die Vorstellung
reicht! Sie arbeiten dann nicht in der Realität weiter, sondern
wollen mehr – mehr – mehr Neues im Gehirn! Neue Theorien,
neue Technologien!
Und sonst? Sie sind oft „goofy“, sehen Kleidung als bloße
Körperbedeckung an (langes T-Shirt reicht), verstehen Menschen
nicht, die nicht logisch wie sie selbst sind. Sie haben Probleme mit
den Gefühlen anderer und ganz bestimmt mit den eigenen, die sie
lieber nicht benutzen, die sie sich nicht leisten wollen oder deren
bloße Existenz sie eher leugnen. Sie versuchen die Gefühlsseite
zu intellektualisieren…
Wenn sie etwas Neues erfahren, wird es unbedingt auf Wahrheit abgeklopft.
Es wird bezweifelt, hinterfragt, kritisiert, widersprüchlichkeitssuchend
weichgeschossen, herausgefordert, aus allen Perspektiven beäugt,
nach dem Haar in der Suppe gesucht.
Andere Charaktere mögen Nörgler, Korinthenkacker oder Erbsenzähler
sein – INTP sind in ihrer Wahrheitssuchestrategie für andere
oft wie Haarspalter. Das treibt die anderen zur hellen Verzweiflung,
denn sie wollen nicht dauerdebattieren und alles weichschießen.
Sie wollen etwas tun, endlich handeln, umsetzen, hinaustragen! Da
sagen die anderen, sie wollen es nicht weiter bereden. Stop. Aufhören.
Tun. Das macht die INTP misstrauisch, dass ein anderer nicht weiterdiskutieren
will. Hat der etwas zu verheimlichen? Ist da eine Leiche im Keller?
Der INTP vermutet Intransparenz, Lüge, Seilschaft… Er will,
dass alles geklärt wird, bis es klar ist, ohne Gefühle und
ohne Gefühl für Gefühle.
Und ich frage mich: Was, wenn der typische Pirat ein INTP wäre?
Ich meine, so ein einzelner Haarspalter im Team ist ja ganz okay.
Manche andere Leute haben Ideen, andere handeln, wieder welche rechnen
und verkaufen – ja und einige müssen auf Wahrheit und Konsistenz
schauen. Aber wenn bei den Piraten nun so – sagen wir –
zu 30 Prozent oder nur 10 Prozent INTP wären (statt 2 bis 3 Prozent
oder so in der Bevölkerung), was dann?
Dann wäre die Haarspalterei definitiv nicht auszuhalten, weil
nun nicht einfach der Haarspalter alle anderen normalen Menschen glattbügelt,
sondern auf Haufen anderer Haarspalter trifft, die ja alle einzeln
intellektuell brillant sind und jeweils in ihrem Kopf eine schon lange
vorgedachte beste Welt in sich herumtragen, die bitteschön andere
verwirklichen sollen oder auch nicht.
Stellen Sie sich vor, eine große Masse von Kopfmenschen trifft
sich zum Wahrheitssuchen, also zu einem Parteitag wie damals die Ritter
zu Turnieren?
Wenn die typischen oder wenigstens maßgeblichen Piraten INTP
wären, würde immer nur verbal auseinandergesetzt und überall
da Transparenz gefordert, wo der Verstand allein nicht durchdringt.
Gefühle würden ignoriert und deshalb überall dort ignorant
verletzt, wo sie eine Rolle spielen – also wo? Im „typisch
Weiblichen“, im Psychologischen, bei Angelegenheiten der Herzenswärme
und bei der Zuneigung zum Wähler. (Etwa drei Prozent der Männer
sind INTP, aber weniger als 1 (!!) Prozent der Frauen, weshalb eine
repräsentative INTP-Community überaus männerlastig
sein muss – auch das noch!)
Gefühlsorientierte würden die Piraten kalt finden, Feminine
nicht der Partei beitreten, Parteiführer, die in ihrer Rolle
Einheit herstellen und präsentieren müssen, an den Diskussionsmultiduellen
zerschellen. Dann würde die Piratenpartei von den Frauen oder
den emotional intelligenten Herzmenschen verlassen, die Redeweise
würde ruppiger und allen außen würde es mehr und mehr
chaotisch vorkommen… Dann aber dreht sich die Todesspirale:
Denn nun finden alle Menschen, die selbst nur chaotisch sind und in
anderen Parteien ihre seltsamen Ideen nicht äußern können,
die neue Möglichkeit sympathisch, dass sich überhaupt jeder
zu allem bei den Piraten melden kann und alles als Antrag stellen
darf.
Wenn sich Superintelligenzen zu sehr zerdiskutieren, werden davon
alle Superseltsamen der Welt wie Motten vom Lichte angezogen, weil
die Seltsamen ihre Partikularitäten, Weltverbesserungsschrullen
und überhaupt alles Außerirdische mit Superintelligenz
verwechseln… Nun wird der schon ruppige Ton ungeduldig, denn
bei den Piraten darf jeder etwas sagen, aber natürlich nur etwas
Großartiges im Sinne des INTP… Bei normalen Parteien gewinnt
bei den Abwärtsspiralen das Mittelmaß, hier aber das bloß
Skurrile, das auffallend und unangemessen Unkonventionelle.
Ich will sagen: Piraten, ich trage Kummer.
Was kann man tun? Sascha Lobo hat zum Jahresanfang auf SPON geschrieben: „Die Piratenpartei hätte für das Internet sein können, was die CSU für Bayern ist. Ihre Allergie gegen das eigene Führungspersonal hat jedoch dazu geführt, dass sie Themen nicht setzt, sondern verwaltet. Aber Wähler werden nicht durch Themen überzeugt, sondern durch Haltungen - und dafür braucht man Köpfe.“ Sascho Lobo ist ENTJ, glaube ich. Kennen Sie ihn besser als ich? Trifft dies?
Personen können ein Ganzes zusammenhalten und Richtung geben.
Eine Vision kann das auch, das habe ich zum Beispiel lieber, weil
ich INTJ bin. Welches Prinzip auch immer: Eine klare Richtung und
ein Ziel muss her, und eine fühlbare mitreißende Leidenschaft
in sichtbaren Personen, dorthin zu gelangen. Das wird gewählt!
Und kein endlos ausdiskutierter Themenpark(platz).
Überspringen die Piraten die INTP-Hürde bei den nächsten
Landtagswahlen? Merkt man, dass allein das Herz von Marina Weisband
das vielleicht gekonnt hätte?