Cliffing – jede Entscheidung ist gut! (Daily Dueck 182, Januar 2013)

Silvester 2012. Die Streithähne der Republikaner und der Demokraten in den USA können sich nicht leiden. Sie ringen um – ja, worum? Zum Jahresbeginn 2013 treten Gesetze in Kraft, die keiner will. Es wäre deshalb gut, sie durch neue zu ersetzen. Aber durch welche? Darum wird extrem gerungen. Die Welt schaut zu. Börsianer zittern empört: „Es ist unverantwortlich!“

Es ist seit Jahren bekannt, dass bis heute eine Entscheidung getroffen werden muss. Es hat viele sachliche Auseinandersetzungen gegeben. Viele kluge Leute haben nachgedacht.
Leider liegen die Positionen oder auch Ideologien so sehr weit auseinander, dass jeder Kompromiss beiden Parteien absolut missfällt. Sie würden sich beide als Verlierer fühlen, auch wenn sie zusammen vor der Kamera freudestrahlend verkünden könnten, die Sache oder vielleicht sogar das Volk habe gewonnen. Nein, beide Parteien wollen sich immer als Sieger in einer Machtprobe präsentieren. Sie glauben, dass sie dadurch Wähler gewinnen! Sie glauben wirklich, für das Gute zu stehen, um vielleicht nicht zugeben zu müssen, dass es einfach auch um Kitzel und Triumph geht.
Bei weit auseinanderliegenden Anfangspositionen gibt es aber nichts in der Mitte, was einer Partei den Sieg zusprechen könnte. Deshalb wird weitergekämpft, obwohl es klar ist, dass sich diese logische Grundsituation nicht verändert. Es muss unbedingt bis zur letzten Minute gekämpft werden. Das Volk wird unruhig, die Börse wird böse. Die Wirtschaft der USA und auch der Welt nimmt schon seit Monaten Schaden. Seit Monaten! Merkt das keiner? Käufe werden aufgeschoben, Lagerbestände abgebaut. Die Unternehmer warten ab, die Konsumenten zum Teil auch. Wir sind schon in einer Weltwirtschaftsdelle. Die Prognosen für 2013 werden doch dauernd gesenkt – weil wir Angst bekommen, dass bei Amerikanern nicht nur mit Pistolen gefuchtelt wird.
Wir fürchten den Absturz der Wirtschaft, wenn die Parteien sich nicht einigen. Wir sagen, da sei ein Cliff. Einen Schritt weiter – und es kommt zum Absturz.

In dieser furchtbaren Situation, in der alles aufschreit und wütend eine Entscheidung fordert, ringen die beiden Parteien bis 5 vor 12, Silvester 2012.
Es ist jetzt so irre, irre wichtig geworden, überhaupt irgendeine Entscheidung zu treffen, ja, irgendeine, sodass es schon sch…ön egal ist, welche. Es ist GANZ egal! Zehntausende Seiten Studien und Sachargumente können ignoriert werden. Ohne jeden Sachverstand wird irgendeine „Mitte“ gewählt.
Dann treten sie vor die Presse und verkünden, dass sie gesiegt haben, aber eigentlich unzufrieden sind. Sie konnten nicht noch „höher“ siegen, weil der Gegner böse war und weil es letztlich ums Volk ging. Wieder ist ein Akt der unendlichen Seifenoper zu Ende. Wenn demnächst die nächste Schuldenbillion genehmigt werden muss, also in zwei Monaten, wird wieder dasselbe Stück aufgeführt. Sie werden morgen sagen, dass sie die zwei Monate auch brauchen, um detaillierte Sachfragen zu diskutieren. Dann aber streiten sie weiter und weiter und haben wieder nur einen Tag Zeit, eben mal wieder über eine Billion Schulden zu zocken.
Wir sehen das nächste Cliff also schon! Die nächste Konjunkturdelle, den nächsten grauen Ärger. Hauptsache, die Parteien können feindlich sein! Hauptsache, sie können kämpfen! Hauptsache, sie müssen nicht über echte Lösungen nachdenken!

Cliffing! Wir sollten diese Technik studieren, Situationen heraufzubeschwören, in denen alles egal ist.

Gleich kommt der Zug. Mutter, Vater und Kind stehen am Bahnhofskiosk. Das Kind will ein Eis, der Vater will das partout nicht. „Ich will ein Eis!“ – „Zu teuer, außerdem will ich es nicht, das muss respektiert werden. Ich bin der Reiche hier, du aber lebst auf meine Kosten.“ Mutter: „Du kleckerst im Zug, später, Kind,… äh, vielleicht.“ Das Kind klammert sich an einen Kioskpfosten und will nicht mit dem Zug mitfahren, wenn es kein Eis bekommt. Der Vater droht immer lauter, zerrt das Kind. Viele Menschen versammeln sich und ziehen die Brauen empor. Der Vater schreit. Das Kind klammert stumm und verbissen. Der Zug kommt. Die Mutter zittert. Vater brüllt, Kind schließt verzweifelt die Augen und hält fest. Der Zug hält.
Die Mutter greift irgendein Eis, hat nur einen Fünf-Euro-Schein, wirft ihn Wechselgeld verzichtend hin, läuft mit dem Eis in den Zug, die beiden anderen ihr nach. Sie schnaufen erschöpft im Abteil, das Kind leckt am Eis. „Es ist ein billiges Eis,“ freut sich der Vater. „Ich mag Erdbeer eigentlich nicht,“ schaut das Kind die Mutter vorwurfsvoll an. Die aber ist glücklich. Es herrscht wieder Harmonie.

Neujahr 2013.
Friede!

Ich wünsche Ihnen allen ein gutes Jahr 2013, mit nur wenigen Klippen.
Ich habe es nicht mehr geschafft, das vorstehende Werk im Jahre 2012 auf meine Webseite zu laden. Wir sind gestern Abend nach dem Stomp-Event im Mannheimer Rosengarten aufs Heidelberger Schloss gezogen, wo ich Fotos gemacht, Sekt getrunken und meine paar REWE-Sonderangebots-Raketen abgefeuert habe. Jetzt ist 2013. Es geht turbulent los. Stomp! Stomp! Geschichte ist unerbittlich, nicht wahr? Sie geht nämlich immer weiter.

Die Bahn fährt los, die Bahn fährt weiter, das Kind leckt nicht wirklich zufrieden am Eis. Erdbeer! Das ist ein schaler Kompromiss, ganz zufällig entstanden durch den Panikgriff der Mutter in die Kühltruhe. Der Vater sitzt voller Grimm da und bebt. Plötzlich beugt er sich blitzschnell nach vorne und beißt die obere Hälfte vom Eis ab und schluckt sie in einem Stück. Das Kind brüllt gellend, weint vor Zorn, würgt aber das Eis unter Schluchzen schnell hinunter. Danach: Bitteres Schweigen, rollende Augen in verschiedene Richtungen. Die Luft raucht.
Als die Bahn anhält, klammert sich das Kind verbissen an eine Haltestange und will nicht aussteigen. Der Vater will zuschlagen, aber der Zugbegleiter mahnt, während sich die Mutter auflöst. „Sie MÜSSEN jetzt aussteigen!“, dringt der Zugbegleiter. „Ich mag mich nicht schon wieder entschuldigen!“ – „Ich will eine Tüte Capri Sonne!“ – „Du, Kind, das musst du mit deinen draußen Eltern ausmachen, die Bahn ist kein Saftladen!“
Sie steigen überstürzt aus. Das Kind bekommt irgendetwas, es ist nicht zufrieden. Der Vater ist böse, dass er für alles aufkommen soll, bloß weil er Geld hat. Aber jetzt herrscht wenigstens wieder Harmonie. Friede!

Heute Abend stimmt der Kongress ab. Morgen ist niemand zufrieden. Aber wir sind alle erleichtert. Es ist Friede – bis ungefähr März, vielleicht aber auch nicht. Friede ist heutzutage ein Geschenk, so wird wohl defätistisch geglaubt. Man darf ihn dankbar annehmen. Man kann ihn leider nicht selbst fabrizieren, denkt man. Friede ergibt sich.
Jedem.
Ach, Friede ist heute wie Ruhe, Ruhe wie Frieden.
Wir müssen uns um Wiederauferstehung des heiteren lebendigen schaffenden Friedens bemühen. Schlaflose Ruhe sollte uns nicht genug sein.

Gunter Dueck

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