„Age of first interest“ – Bringt bei, was interessiert, nützt oder fesselt! Über Schwarze Löcher, Dinos, Ritter und Smartphones (Daily Dueck 179, Dezember 2012)

Das deutsche Kind soll alles von Erwachsenen Gewünschte zum ersten möglichen Zeitpunkt können: Krabbeln, Laufen, Zahnen, Sprechen, Erfolgstopfsetzen, Dankesagen, Zimmeraufräumen, Zähneputzen. Das wird ihm beigebracht, ob es will oder nicht. „Zahn endlich! Andere Babys sind schon im Vorteil!“ Was das Kind selbst interessiert, nervt eher. „Das kannst/verstehst du noch nicht.“ Wieder anderes soll nicht interessieren. Besser nie: Sex. Diese erwachsene Haltung programmiert die Kinder, wo man sie doch entfalten könnte.

Vielleicht kann ich heute nicht gut googlen. Ich habe nach dem „Alter ersten Interesses“ für irgendetwas im Internet gesucht. „Earliest age“ oder „erstes Interesse“. Es kommen Treffer der Art „first age of intercourse“ oder „Alter beim ersten Mal“. Gibt es eine Liste, wann Dinos, Planeten, Atommodelle, Ritter, Hexen oder Computer interessieren? Könnten wir nicht immer gerade all das, was wirklich brennend interessiert, im Unterricht behandeln, wenigstens zu einem guten Teil?
Wenn Kinder etwas interessiert, fragen sie uns Löcher in den Bauch. Warum nutzen wir das nicht aus? Sie lernen dann zehn Mal schneller und viel, viel mehr. Wenn es nützlich ist, lernen Kids auch höchst langweiligen Kram, so wie etwa bei der theoretischen Führerscheinprüfung, die JEDER besteht, auch ohne Hauptschulabschluss und Alphabetentum. Was meckern wir über unsachkundigen Gebrauch des Internets durch Kids? Wir könnten verlangen, dass sie einen Internetführerschein machen, in Stufen wie beim Freischwimmen. Machen sie! Gerne! Freisurfen!

Jeder lernt gern, wenn eines oder mehreres vom Folgenden zutrifft:

• Das Gelernte nützt und hilft weiter
• Das Gelernte fesselt die Aufmerksamkeit oder macht Freude oder Spaß
• Das Gelernte eröffnet eine neue Welt des Interesses

Fahrschule nützt, Erste Hilfe nützt. Hexen, Zootiere und Smartphones fesseln. Oft eröffnet Gelerntes einen neuen Blick und erzeugt ein Interesse, das lebenslang anhält. Baukästen können Ingenieure „erzeugen“, Bücher den Geisteswissenschaftler, ein Altenpflegepraktikum einen Menschenberuf. Vorbilder helfen, große Erlebnisse, Siege im Sport, Musik, Reiseerfahrungen – Begegnungen, die haften bleiben und zum Teil ungeheure Energien freisetzen: Lust, Schaffensfreude, Unternehmertum, Pflichtbewusstsein oder Selbstdisziplin.

Das Problem scheint zu sein, dass „da kein System dahinter steckt“, sonst könnten wir danach vorgehen. Unsere Erziehungssysteme tendieren aber immer mehr dazu, den Erziehungsprozess zu systematisieren und letztlich zu industrialisieren. Sie stellen sich taub gegen alle Vorwürfe dieser Art:

• „Tödlich langweilig und nervig, viel zu abstrakt.“
• „Nutzlos. Niemand braucht‘s im Leben, außer wer’s studieren will.“
• „Keine Beispiele, es steht neben dem Leben.“

Immer wieder werden Leute im TV gefragt: „Was davon konnten Sie anwenden?“ Die Antwort ist stets sehr ernüchternd, auch weil man im echten Leben Wirtschaft, Psychologie, Kommunikation, Management, Jura, Geschäftsprozesse oder Medizin gut gebrauchen könnte, die aber nie in der Schule vorkommen. Warum dafür Latein? Warum gerade so die ganze Organisation der naturwissenschaftlichen Fächer? Sie ist doch wohl wahrscheinlich insgesamt (Mathematik der Differential- und Integralrechnung, Chemie mit den Atommodellen) von einer Physiklobby aus dem frühen 20. Jahrhundert so zeitlich koordiniert in den Schulplan gepresst worden, dass ein Abitur gut auf ein Physikstudium vorbereitet? Sind einfach nur Horaz, Faust II und die Quantenmechanik die Ziele unseres Seins, das leider damit sehr wenig während und nach der Schule zu tun hat? Haben Physiker, Goetherianer und Altphilologen für immer unser Leben bestimmt?

Ich versuche zu verstehen, wie wohl diese Bildungsvorstellung entstanden ist… Weiß das jemand? Ich fühle folgende Prinzipien:

• Das amtlich historisch kulturell Wertvolle wird gelehrt, ohne Rücksicht auf die Zeit. Bei-spiel: Latein ist wertvoll, Englisch ist nützlich.
• Neues wird erst gelehrt, wenn es amtlich anerkannt ist, also Patina ansetzte. Nützlich ist, was sich schon Jahrzehnte bewährte.
• Alles wird abstrakt und systematisch gelehrt – im Sinne der Wissenschaft
• Alles wird so früh wie möglich und, wenn nötig, in mehreren Abstraktionsrunden gelehrt.
• Alle Erziehung wird nach Altersstufen betrieben, um die Logistik des Systems zu entlasten und große uniforme Klassen zu ermöglichen.
• Die treibenden Kräfte im Menschen, sich alles anzueignen, sind Disziplin, Fleiß, Ordnungsliebe, Pflichtgefühl und Unterdrückung von widerstrebendem Gefühl, von Lust und divergierendem Interesse.
• Selbstverleugnendes Pflichtgefühl ist nicht Ziel der Erziehung, sondern eine Voraussetzung für den Erfolg der Erziehung, die mitgebracht werden muss (von den Eltern erzeugt werden muss oder bei Glück angeboren sein könnte).

Diese Prinzipien sind ein absolutes Anti-Energie-Paket im Menschen. Selbst Kant fand, dass ein Leben leichter fällt, wenn Neigung und Pflicht zusammenfallen – aber die Pflicht stand natürlich am höchsten! Das Beste, was man tun kann, ist nach Kant und damit wohl wirklich, mit Spaß all das zu tun, was man tun muss. Das implizieren unsere Erziehungsprinzipien.
Alle anderen Energien im Leben werden nicht genutzt, weil sie die Prinzipien aufweichen oder beschädigen. Wer die vollen Energien der Kinder mitnehmen will, muss Nachteile hinnehmen und Kröten schlucken – also Kompromisse machen. Warum lesen wir denn alle Faust („Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum.“), lernen ihn auswendig und verstehen mit Absicht nicht, was er uns sagen will?

Kinder könnten zehn Mal mehr lernen, aber sie müssten viel individueller nach ihren langsam zum Vorschein kommenden Talenten, Begabungen, Kräften und Neigungen gebildet werden. Es sind Abstriche an der Wissenschaftlichkeit der Bildungsinhalte nötig – zugunsten von Einzelinhalten und Einzelproblemstellungen, die mehr Symbol- oder Beispielcharakter haben und so einfach wirklich Freude machen können, wo Wissenschaft so trocken („grau“) wäre. Es sind Abstriche in der Systematik und der Prüfungslogistik notwendig! Ja! Kröten schlucken! Wir alle lamentieren doch schon heute gegen zu systematisches Wissen, was gegen das als besser empfundene vernetzte, assoziative und kreative Denken steht? Pflicht muss vom heiligen Sockel gestoßen werden, es ist die Haupttugend des alternativlos ohnmächtigen Untertanen aus der Sicht des Herrschers aus der früheren Zeit und des Paukers aus der jetzigen.
Wollen wir nicht einmal das Logistik-Herrscher-Wissenschaftler-Systematik-Pflicht-Paket infrage stellen? Das ist zu GRAU!

Es gibt so viel Grünes und Goldenes. Jedes beliebige Kind würde einen Bachelor in Dinosauriern, vergleichender Smartphonekunde, in Schwarzen Löchern und belebten Planeten, Pop-Hit-Lyrics, Hexensprüchen oder in Jediritterkunde hinbekommen. Jedes! Dann, wenn es sich in seinem Alter gerade dafür interessiert. Ohne Pflicht – einfach aus Neigung. Lassen Sie uns nicht den größten Teil der Menschenenergie wegwerfen und auch nicht all die Menschen, die nur alternative Energien in sich tragen, also sehr viel Neigung und nicht so viel Pflicht.

Gunter Dueck

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