Mein Neuron vom Dienst oder „Neurons in Charge“ (Daily Dueck 178, November 2012)

Das Problem an meinem Finger fasziniert mich, es erinnert mich an meine Omnisophie-Trilogie, in der ich ein Sensorsystem in unseren Körpern postuliert habe, inspiriert durch eigene Forschungen in der Informationstheorie („identification theory“) und durch den Begriff des somatischen Markers in den Werken von António Damásio („Descartes‘ Irrtum“). Mein Finger tut mir öfter einmalig weh, weil ich ihm das irgendwie befohlen haben muss. Wahrscheinlich müssen jetzt die Hirnforscher eine Massenstudie an mir treiben.

Die Geschichte fing vor ein paar Monaten an, als sich eine harmlose Hornhautschwiele an meinem rechten Ringfinger ausweitete. Das will ich nicht! Die Ärztin aus unserer Familie riet zum Einreiben mit Urea-Lotion, was auch hilft. Na gut, dann eben Urea. Leider ist die Stelle an meinem rechten Ringfinger ziemlich nötig zum Schreiben auf dem Computer. Das gibt so lange ein schmieriges Problem beim Arbeiten, bis die Lotion, Creme oder Salbe gut eingezogen ist. Auch beim Eincremen vor dem Einschlafen halte ich den Finger ein bisschen aus dem Bett heraus…

Bis hierher ist alles normal. Aber: Oft schlafe ich sofort ein – ganz ohne bewusst zu registrieren, dass jetzt die Creme eingezogen ist und dass ich jetzt normal einschlafen kann. Der Finger hält sich jetzt draußen und hat noch keinen militärischen Befehl vom Gehirn: „Rührt euch!“ Er hält sich ohne weiteren Befehl immer noch in der Haltung „Stillgestanden!“ Er wartet. Da wache ich irgendwann auf und stelle fest, das etwas mit meiner Hand ist. Aha, die wartet! Sie ist vorsichtig gespannt. Ich krümme den eingecremten Ringfinger. Er tut weh! Er tut richtig weh, als wolle er sagen, dass er noch keinen neuen Befehl bekommen habe. Ich sage dem Finger, dass er jetzt nichts mehr zu tun brauche, er sei entlastet, seine Aufgabe erfüllt. Da tut er nicht mehr weh und schläft nun mit, wo er vorher offenbar noch wach war. Ist der einmalige Schmerz nun einer, weil der Finger länger steif gehalten wurde? Oder setzt mein Finger den Schmerz fest, damit ich im Schlaf nichts falsch mache und nicht daran rühre? Das wird die Studie ergeben…
Trotzdem: Da ist etwas im Körper, was die Befehle auch im Schlaf noch ausführt und was sofort ruhig wird, wenn ich wieder Ruhe erlaube.
Bei dem ganzen Rummel um Spiegelneuronen, wo alle fast fanatisch eine emotionale neuronale Grundlage im Menschen erkennen wollen, glaube ich ja, dass wir im erweiterten Sinn einfach „Neuronen vom Dienst“ oder „Neurons in Charge“ haben. Die sind auf eine einzige Aktion hin ausgerichtet und agieren dann in ihrem Mikrokosmos automatisch.

Ich muss noch mehr davon im Körper haben, bestimmt! Da muss es zum Beispiel ein Neuron vom Dienst geben, das „es ist zu heiß“ im Körper feststellt, das dem Gehirn „Schwitzgefahr“ meldet und Nachdenken über die Bekleidung auslöst. Das Problem bei diesem Neuron ist, dass wir seine Einstellung nicht mehr gut verändern können, wenn wir etwa im Afrika-Urlaub sind. Die Einheimischen finden Hitze ganz normal und ihr Körper mault gar nicht herum, während meiner schon Amok läuft. Mein Hitzealarmneuron kann sich bestimmt erst nach Monaten oder Jahren in den Tropen umstellen – und bis dahin fühle ich mich ständig unwohl, weil ich dauernd gewarnt werde. Das Hitzealarmneuron hat sich irgendwie verselbstständigt. Meinem Fingerneuron kann ich noch sagen, es soll jetzt nichts mehr tun – und es gehorcht. Das Hitzealarmneuron hört aber in Afrika nicht auf! Es ist nun schon so lange mit demselben Arbeitsmuster erfolgreich tätig, dass es nur noch unter größten Anstrengungen umerzogen werden kann. Es hat eben wegen seines Erfolgs nie mehr einen Dialog mit dem Gehirn stattgefunden, es arbeitet schon so lange ganz losgelöst vom Gehirn! (Es ist all das im Gehirn, ich weiß, auch „der Körper“, ich schreibe aber hier einmal nicht von Gehirnteilen, sondern „normal“).

Oh, da stöhne ich nun wieder über das allgemeine Problem eines Alarmneurons oder Sensors in unserem Körper, der plötzlich eine andere Funktion haben soll und zu dem wir keinen bewussten Kontakt mehr haben!
Dabei sehen wir doch: Afrika ist überall!
Wir werden als Kind mit Warnungen zugetextet. „Pass auf! Achtung! Nie so! Tabu! Verflucht seist du, wenn…“ Da bilden unsere Eltern ein Über-Ich aus Alarmsensoren in unserem Körper aus. Diese Sensoren steuern uns so, wie die Autoritäten wollten. Und dann – ach und weh – dann werden wir erwachsen in einer neuen Zeit und man erwartet von uns „Veränderung“, „Wandel“, „Change“ und „Umdenken“. Das aber geht nicht mehr, weil das alte „Denken“ gar nicht im vorgestellten „Denkgehirn“ stattfindet und hier einfach geändert werden könnte. Das „alte Denken“ ist in Sensoren betonsicher eingeprägt oder eingebläut. Es ist vom normalen Denken nicht mehr „erreichbar“, weil es schon zu lange autonom gearbeitet hat.

Deshalb ändert sich nichts mehr gut, was zu hart eingetrichtert wurde, was durch Prügel, Liebesentzug, Hohn und Schmähung, durch Erniedrigung und Strafe im Körper fest als System von Alarmneuronen etabliert wurde. Und noch schlimmer: Man prügelte ohne Plan auf uns ein, der Vater hier, die Lehrerin dort, der Chef an anderer Stelle – alle getrennt! Sie alle setzten unabhängig voneinander „somatische Marker“, die nun gemeinsam chaotisch durcheinanderwirken. Das kann so schlimm sein, dass ein Mensch ganz „verhunzt“ wurde und kaum noch änderbar ist.

Wenn meine Theorie aus der „Omnisophie“ stimmt, muss uns Menschen wirklich zum Weinen zumute sein, weil wir falsch mit unserem Körper umgehen, der nach der christlichen Lehre und vielen anderen als Sitz des dunklen Impulse, der Sünde, der Hyperaktivität oder der Sucht nach Lust angesehen wird und am besten im Willenssinne ausgelöscht werden soll (gereinigt, nagelgebrettet, erlöst, ritalinisiert). Und ich sage: Wir brauchen eine neue Vorstellung vom Körper als ein HILFREICHES Sensorsystem, dass uns zu Diensten stehen kann und nur eben durch Früherziehung gut ausgebildet werden muss.

Lassen Sie mich mit dieser Idee oder Erkenntnis nicht so allein.

Gunter Dueck

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