Links im Sinnraum
Digiphobe, hört! Surfen lässt mich geistig wachsen! (Daily Dueck 176, Oktober 2012)
Googeln gilt neuerdings als gefährlich, weil sich manche beim Surfen verlieren. Oh, das könnte passieren. Aber ich selbst finde, ich gewinne mich beim Surfen. Vielleicht hat das Ganze auch gar nichts mit dem Surfen zu tun, mehr damit, dass man sich nicht verlieren soll. Hier nicht und dort nicht. Ich muss das Ganze noch einmal sagen!
Googeln bildet enorm. Ich traue mich kaum, das zu erklären,
weil ich bestimmt wieder Schelte bekomme, dass ich die Begriffe Information,
Daten, Wissen oder vernetztes Wissen zu sorglos gebrauche und nicht
so, wie die Theoretiker es gerade für ein paar Monate festgelegt
haben. Die knabbern noch daran, was „implizites“ Wissen
ist, was „tacit knowledge“ bedeutet, wie Bauchgefühl,
Intuition, Sinnerkennung und dergleichen PowerPoint tauglich in Bullets
niedergelegt werden können. Ist mir egal! Nehmen wir gleich das
Komplizierteste, was noch nicht wissenschaftlich erforscht ist, vernetzte
Gesamtbildung – was weiß ich!
Das alles bekommt man beim Surfen, wenn man will. Ich stelle Fragen,
bekomme Antworten. Ich füttere mein neuronales Netz, das unentwegte
Ströme von Selbstlernadaptionen verarbeitet. Bei den Antworten
wird auf Naheliegendes und auch ganz fernes per Link verwiesen, dadurch
hüpft der Gedankengang zwischen meinen Hirnzellen hin und her,
so wie es ohne Surfen ja nie geschähe. Das Aufgenommene, das
Wissen, die Daten, die Verbindungen erbauen etwas Ganzheitliches in
mir. Das geht heute in der digitalen Welt so schnell! Ich muss nicht
mehr 30 Minuten Bibliotheksgang und Microfichefuzzelei für jede
klitzekleine Frage verplanen. Ich habe Doktoranden gekannt, die damals
für ihre Dissertation um die 2000 Artikel auf Abschreibbares/Auswertbares
geistig scannen mussten – sie wohnten irgendwie in der Fernleihe
der Uni-Bibliothek, die Monate und Jahre lang einen zähen Strom
von Artikelkopien herausmüllerte.
Das Bilden, Mustererkennen, Zusammenfügen, Integrieren geht so
viel leichter mit Google, das persönliche Formen zu einem harmonischen
Hirnuniversum macht viel mehr Freude. Ich werde, ich entwickle mich,
ich wachse, ich bin.
Aber natürlich – viele verlieren sich im Digitalen, verheddern
sich, bleiben stecken, blicken süchtig auf Miniaspekte. Man sagt,
sie haben nicht lernen gelernt, sie verstehen sich nicht auf multimedialen
Umgang. Man sagt, sie können das Wichtige nicht vom Unwichtigen
unterscheiden, weil sie nicht genügend gelernt hätten. Wie
ein riesiger bunter Haufen von Nützlichem, bösen Versuchungen
und Massenmüll präsentiere sich das Web dem Unkundigen.
Dabei geht es um mehr als nur das Lernen, mit dem scheinbar Ungeordneten
umzugehen. Man muss nicht nur das Lernen lernen, sondern doch vor
allem lernen wollen, sich entwickeln wollen, werden zu wollen, interessiert
zu sein, liebzugewinnen. Ja, und dann – dann! Dann müsste
man eine sehnsuchtsvolle Vorstellung haben, was man werden will, was
man dafür lernen und wie man sich entwickeln will. Ein entscheidender
Punkt im Leben ist, an dem man freudig eine konkrete eigene Bestimmung
annimmt. „Das wird mein Leben!“
Wer weiß, was sein Leben werden soll, verliert sich nicht irgendwo.
Er geht seinen Weg. Und das geht mit dem Internet in fast allen Fällen
besser als ohne, weil das Internet uns mit seinem Reichtum und seinem
Hirndünger schneller aufblühen lässt.
Wer sich aber nicht selbst gefunden hat, findet sich im Internet wahrscheinlich
auch nicht. Diese simple Beobachtung kann nicht Grundlage sein, digiphob
zu werden – so als sei es eine wichtige Maßnahme, den
Menschen an sich (neuerlich) zu sich selbst zu führen. Nein,
wir müssen Menschen auf ihren eigenen freudigen Weg bringen –
und tun, was immer dazu hilft. Eltern, Lehrer und Vorgesetzte tragen
die große Verantwortung dabei. Mit Hausordnungen, Verboten und
„Ganztagsaufpassen“ ist nichts gewonnen. Bitte keine Ablenkung
mit digiphoben Hasstiraden. Die Aufgabe, den Menschen im Menschen
zu befreien, damit er sich begeistert einer Bestimmung widmet –
die bleibt. Sie wird durch das Digitale nicht schwerer.