Links im Sinnraum
Das Unvertraute ist gefährlich und deshalb wohl auch böse (Daily Dueck 175, September 2012)
Es gibt immer Wesen und Dinge, die wirklich gefährlich sind. Ja, und dann ist bestimmt alles Unbekannte gefährlich, mindestens solange wir uns damit nicht auskennen. Wir könnten ja Fehler machen. Wenn wir aber Fehler machen, verklagen wir den, der uns hätte warnen müssen. Deshalb warnt uns jeder vor allem. Und folglich ist all das gefährlich, wobei man Fehler machen kann. Fehler kann ja jeder überall machen, oder? Aha, alles ist gefährlich.
Hunde sind total gefährlich! Sie beißen! Nein, das tun
sie fast nie, wenn man sie wie nette Menschen und lieber nicht wie
gefährliche Tiere behandelt… Ach, ich erkläre es mit
Kühen. Stellen Sie sich einmal auf eine Kuhweide, wo in einigem
Abstand eine Kuhherde grast. Rufen Sie bitte sehr heiter und gutgelaunt:
„Hallo, Kühe!“ Da bleiben sie stehen und schauen
lange, wie Kühe eben, mit großen Augen. Nach einiger Zeit
gehen sie einen sachten Schritt auf Sie zu, dann zögernd noch
einen. Kühe können nicht so gut sehen, sind aber neugierig.
Dann kommen sie alle heran, sie kommen in Trab – die ganze Herde
auf sie zu. Bleiben Sie ruhig stehen, bleiben Sie freundlich, reden
Sie nett. Dann stoppen die Kühe kurz vor Ihnen und schauen Sie
an. Jetzt können Sie sie streicheln und ihnen Gras geben und
die raue Zunge spüren. Kühe sind lieb. Richtig lieb und
treu, sie haben tief treue Augen.
Die meisten Menschen aber bleiben NICHT stehen, wenn die Herde angestürmt
kommt. Für Menschen ist so eine Menge einfach zu beeindruckend.
Also weg! Weg! Da laufen die Kühe weiter, jetzt vielleicht sogar
böse, weil sie jetzt möglicherweise keinen Menschen mehr
besuchen wollen, sondern merken, dass sie „einen Leopard“
verjagen müssen. Meine Mutter hat das einmal erlebt, als Bäuerin!
Sie nahm im Alpensommerurlaub eine Abkürzung über eine Wiese,
da kamen die Kühe heran. Meine Mutter bekam Herzflattern, sie
sprang sich übel ritzend über den niedrigen Stacheldrahtzaun
und landete in einem Kuhfladen der Nachbarwiese, der sie wärmstens
landen ließ. Sie konnte das nie verwinden – dass sie als
Bäuerin im Urlaub vergessen konnte, dass Kühe lieb sind.
Auf dem Bauernhof wusste sie das doch allezeit, im Urlaub aber war’s
weg.
Haben Sie schon einmal gehört, dass Kühe jemanden umrennen – außer in der Arena, wo sie es nach endlosen Quälereien als ultima ratio versuchen? In dem Moment aber, in dem meine Mutter das für möglich hält und Angst bekommt, denkt sie, dass Kühe böse sind. Und sofort – genau jetzt – denken wohl auch die Kühe ihrerseits, dass meine Mutter böse ist…
Damit so etwas wie mit meiner Mutter nicht passiert, wird einfach
vor Hunden und Kühen, vor Pferden – überhaupt vor
allem gewarnt. Im Urlaub in Südafrika haben sie uns vor den wilden
Tieren gewarnt, ganz generell vor allen Menschen in der Nacht, vor
der Benutzung von Geldautomaten in belebten Gegenden und vor Geldautomaten
in einsamen Gegenden. Das Internet im Hotel ist gefährlich, das
sagte mir auch Facebook sofort und sperrte meinen Account. Ich hab
dann zu Hause eingetippt, dass ich das persönlich selbst in Kapstadt
war, da durfte ich wieder rein.
Wir sind es gewöhnt, dass uns alle Risiken unter die Nase gerieben
werden, damit wir niemanden verklagen können. Bei den Banken
müssen wir unterschreiben, dass wir wissen, wie gefährlich
die sicheren Papiere sind. Bei Versicherungen, die uns Sicherheit
verkaufen, müssen wir erklären, über die Unsicherheiten
informiert worden zu sein. Beim Arzt, der uns zuversichtlich stimmt,
unterschreiben wir, dass wir wissen, dass es böse ausgehen kann.
„Bevor Sie diesen Apfelsaft trinken, lassen Sie bitte feststellen,
ob sie allergisch sind. Wir haften nicht.“ Sogar von echten
Betrügern dürfen wir nichts mehr kaufen, bevor wir nicht
aufgeklärt worden sind, dass sie Betrüger sein könnten,
aber dass wir das nicht glauben, obwohl sie uns davor gewarnt haben,
dass es so sein könnte.
Ich will sagen: Man zeigt uns überall die Risiken auf, dann scheint alles getan. Das ist es nicht. Wir müssen verstehen, wie es zu Problemen kommen kann. Wir müssen uns Fremdes und Fremde, alles Wilde, alle Ferne und Anderskulturelle, die fremden Gegenden, Maschinen, Medikamente, Urlaubsobst und überhaupt alles vertraut machen – wir dürfen es nicht einfach fremd sein lassen und als gefährlich meiden. Was vertraut oder mindestens verstanden ist, ist bei weitem nicht so gefährlich. Oft ist uns das Vertraute lieb. Wer aber nicht versteht und nicht vertraut macht, verwechselt die Warnungen vor Nichtvertrautsein und Nichtverstehen bald mit echter, realer, finsterer Gefährlichkeit.
Wer nicht mit dem Fremden vertraut ist und nur die Warnungen kennt, wird irgendwann sogar denken, dass das Gefährliche wohl auch böse sein muss. Dann sind Tiere, die man nicht einschätzen kann, böse. Hunde sind böse, Kühe sowieso, Pferde schlagen aus. Fremde Menschen erscheinen böse, andere Kulturen, unbekannte Pflanzen, Innovatoren, andere politische Parteien, Verhandlungspartner, Digital Natives, Andersdenkende, Langhaarige, Manager und Mitarbeiter. Alles Unbekannte ist generalverdächtig – im Faltblatt wird ja gewarnt, überall lauert etwas.
Wenn vor allem nur gewarnt wird, ohne es vertraut zu machen, kommt das Gefühl auf, das potentiell Drohende da draußen sei eigentlich vom Zweck her gegen uns gerichtet. Wir interpretieren das Fremde als Feind und grübeln bei allem, was geschieht, was das da draußen wohl mit uns vorhaben könnte. Die Warnungen ohne ein Vertrautmachen haben nun alles andere zum bösen Feind gemacht und uns zu einem armen paranoiden Würstchen.
Und wenn uns das da draußen nicht lieb ist, dann reagiert es
oft auch nicht lieb… Der Stress im Angesicht des Unvertrauten
macht uns finster. Und wir werden wie Finstere behandelt. Die Teufelsspirale
erfasst alles in einem Strudel nach unten.
Amerika ist nicht vertraut mit der Welt – und behandelt auch
uns Besuchstouristen wie Terrorverdächtige, uns alle –
da sind wir böse auf Amerika. Der US-Präsidentschaftskandidat
Romney scheint mit keinerlei Nichtreichen vertraut und ist auf die
Nichtreichen „als Abhängige“ böse, da sehen
ihn diese nun selbst als böse an. Manche Hirnforscher sind mit
dem Internet nicht vertraut und misstrauen – sofort schlägt
Misstrauen zurück. Politiker sind mit den Gegenpositionen nicht
mehr vertraut – sie feinden sich nur noch an. Ganz generell
macht jede auch nur partielle Unbildung böse, wenn sie den Unvertrauten
unter Stress setzt.
Hört auf, uns alles nur zu verbieten, das Fremde einzuzäunen
und uns Warnhinweise nur per Unterschrift quittieren zu lassen. Macht
uns vertraut. Bildet uns dazu in aller Ruhe. Lasst uns liebgewinnen.
Das wäre wohl das, was Philosophen wirklich mit Aufklärung
gemeint haben könnten. Es geht bei der Aufklärung darum,
positiveres Karma zu erzeugen.