Digitale Potenz – ein Überspitzer gegen den Über-Spitzer (Daily Dueck 174, September 2012)

Alles hat zwei Seiten, besonders alles Neue. Die Antagonisten des Neuen verdammen es dadurch rhetorisch smart, indem sie seine vermutlichen oder zu befürchtenden Schattenseiten mit den Sonnenseiten des idealisierten Alten vergleichen. Die neuen Technologien unserer neuen Zeit verheißen dem Menschen „Digitale Potenz“. Das schmeckt vielen nicht, weil sie diese ja erst durch Lernen erwerben sollen. Da kommt der Bannfluch der „Digitalen Demenz“ von Manfred Spitzer gerade richtig.

Das Neue verheißt den Zugang zu allem Wissen der Welt, so wie die Bibliothek in Alexandria der alten Welt einen Kulturschub gab. Wer ein klein wenig wissen will, schlägt bei Google nach, was in zehn Sekunden ermöglicht, wozu früher der Gang zur Bibliothek nötig war (eine Stunde für eine winzige Info?). Fragen bleiben nie mehr ungestellt, nur weil der Gang zur Bibliothek zu lästig wäre. Bildung ist für jeden da, auch in den Slums, die wenigstens ein bisschen Strom haben. Das Beste der Welt ist überall da, es ist nicht den Reichen und Professoren vorbehalten. Bildung hat viel mit der Kenntnis und dem persönlichen Verstehen des Wertvollen zu tun, die kann nun jeder erlangen. Jeder kann sich bilden, wenn er nur will. Das Netz bringt Transparenz und engt das Böse ein, es bringt Bürgern neue Freiheiten gegenüber missbrauchter Macht… Das ist die Verheißung des Neuen! Das Neue begeistert den, der das Gute will. Er verspricht sich viel von der neuen Digitalen Potenz.

Es gibt aber auch Menschen, die sich nicht um das Gute wirklich scheren und eigentlich nur Lust, Ablenkung und Instinktbefriedigung suchen. Solche Menschen wollen nichts leisten und nicht lernen, sie lassen das Hirn lieber leer und schreiben die Hausaufgaben bei anderen ab. Sie wissen nichts selbst, sondern fragen andere. Sie täuschen erforderliche Leistungen vor. Sie verdaddeln mit Spielen die Zeit und befriedigen sich mit Horror und Sex. Sie sind oft süchtig, spielsüchtig, trunksüchtig, tablettenabhängig – was es alles so gibt. Sie konzentrieren sich nicht auf das Gute, sondern zerfließen impulsiv in vieles Zerstreuende. Von ihren eigenen Kindern fühlen sie sich gestört. Die stellen sie ruhig, zuerst mit Zuckertee, später mit Fernsehen, Süßem oder Wegschicken („geh raus und spiel was“). So geben sie ihr Unwesen weiter.

Um diese Menschen kümmert sich nun endlich Manfred Spitzer. Er fragt sich, was sie wohl mit dem Internet anstellen könnten. Sie müssen nichts mehr wissen! Sie googlen. Sie müssen nichts mehr schreiben! Sie kopieren. Sie müssen nicht mehr planlos auf der Straße sitzen, sie daddeln auf dem Smartphone. Sie konzentrieren sich nicht, sie reagieren auf SMSe. Sie streiten sich nicht mehr mit realen Menschen, sie mobben im Web. Sie müssen nicht mehr bis in die Nacht warten, bis das TV mit Sex & Crime lockt, sie haben es jetzt rund um die Uhr. Wer nichts will, kann zum Beispiel auf der Straße nichts wollen oder eben vor einem Tablet auch nichts. Wer irgendwelche Süchte hat, kann sie nun um Internetsucht erweitern oder ersetzen.
Spitzer verlangt, dass diesen Menschen, die nichts wollen, zur Ursachenbehandlung das Netz weggenommen wird… Denn ihr Gehirn (so sagt der von ihm selbst unendlich oft betonte Hirnforscher, der Widerspruch unmöglich macht) nimmt beim Nichtswollen/Impulszerfließen Schaden. Das kann ja sein, sage ich, meinetwegen, sage ich, aber dieses immer wieder bejammerte „Verkommen“ gab es doch als „Analoge Demenz“ schon immer? Was hilft das Klagen einer nun technologiemöglichen neuen Form des Verkommenkönnens? Müssen wir uns nicht doch immer wieder nur auf den Menschen an sich besinnen?
Wie verhindere ich „Demenz“ und wie fördere ich „Potenz“? Diese Aufgabe stellt sich immer neu, wenn sich unser Leben verändert, ja. Aber das Neue abzulehnen, weil nun jede analoge Demenz (an die wir uns gewöhnt haben) durch eine digitale ersetzbar ist? Warum?

Herr Spitzer: Digitale Impotenz ist behandelbar.

Gunter Dueck

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