Phantomvibration und Phantomdenken (Daily Dueck 172, August 2012)

Kennen Sie den Begriff des Phantomgliedes? Es gibt Menschen, denen ein Glied, Arm oder Bein, amputiert worden ist – aber sie haben immer noch Empfindungen, als wenn es noch da wäre. Das ICD-10 listet das Phänomen unter Code G54 als Krankheit von Nervenwuzeln oder des Nervenplexus. Jetzt passiert mir aber immer öfter so etwas Ähnliches mit dem Blackberry.

Da ich oft auf Tagungen und in Meetings bin, sollte ich höflicherweise den Klingelton des Blackberrys abschalten, dann vibriert es bei Anrufen – und ist still. Zusätzlich vibriert es aber bei Google-Mails immer, ich darf es daher im Hotel nachts nicht auf Holz legen, weil ich dann von fremdem Sägeton aufwache. Am Tag trage ich das Blackberry meist in der Hosentasche, sonst im Jackett. Ab und zu vibriert es, dann sind Ihre Mails gekommen, schön! Ach, meist sind es Standardmails von Twitter oder so.
Ich habe öfter folgendes Erlebnis: Ich lege das Blackberry oft neben mich auf den Beifahrersitz, dann vergesse ich es ab und zu im Auto – ja, oder ich fahre ganz zerstreut ganz ohne das Blackberry los. Ich will sagen: es ist nicht immer bei mir. Und dann – plötzlich, irgendwo, irgendwann – spüre ich wieder einmal, wie das Blackberry in meiner Hosentasche oder an meiner Brust vibriert: einmal, zweimal – eine Mail! Ich zähle mit, weil es beim dritten Vibrieren auch klingelt, wenn es ein Anruf ist. Und dann fasse ich nach dem Smartphone, aber es ist nicht da! Weg! Vergessen!
Das ist doch so etwas wie Code G54, oder? Eine Nervenwurzelkrankheit? Wie heißt die? Ich glaube, sie heißt Phantomvibration. Das Blackberry ist gerade von mir abgetrennt, aber ich fühle, dass es bei mir ist. Ich müsste jetzt eigentlich noch aufgeschrieben haben, wann es genau vibriert. Wenn das zusammenpasst – uih dann hätte ich ein Sheldrakesches morphogenetisches Feld entdeckt. Später! Jetzt ist es erst einmal eine Phantomnervenkrankheit.
Ich habe sofort gegoogelt, ob das andere auch haben. Blackberry ist Blackberry. Ja! Ganz viele! Und bei den iPhones scheint es auch Phantomklingeln zu geben – da hören Apple-Personen das iPhone, obwohl es gerade nicht da ist…
Wahrscheinlich haben Sie ja alle ebenfalls diese Krankheit, nur dass Sie keine Kolumnen darüber schreiben. Es kann ja sein, dass ich der letzte bin, der es gemerkt hat – dass etwas Abgetrenntes noch da ist. Gibt es nach Scheidungen dann auch Phantomschnarchen?

Etwas ist abgetrennt worden, fühlt sich aber so an, als sei es noch da.

Und dieses Prinzip des verlorenen Gliedes, das immer noch da ist, übertrage ich nun auf gedankliche Konstruktionen – die sitzen in uns, aber ihr einstiges Fundament ist gar nicht mehr da!

Dazu fällt mir ein Essay von Albert Memmi ein, Der Kolonisator und der Kolonisierte, in dem Sätze stehen wie: „[Es reicht nicht aus], dass der Kolonisierte objektiv Sklave ist, er muss sich auch als solchen annehmen.“ Ich habe darüber eine Radiosendung gehört, es war die Sprache davon, warum sich die damals von Frankreich Entkolonialisierten nicht endlich wie Freie benahmen. Das Problem ist: Sie hatten immer noch die angenommene Rolle in sich selbst. Die Vergangenheit ist abgeschnitten, aber sie fühlt sich noch ganz real an. Alles fühlt sich noch so an! Nicht nur bei Kolonisierten und Kolonisatoren, auch bei Frauen- und Männerbildern ist das wohl so – wir sind gleichberechtigt, aber vieles fühlt sich noch wie früher an. Die Weltkriege sind schon lange her, aber ab und an glimmt wieder Hass auf. Es ist nicht einfach abgeschnitten oder ganz weg, es muss Phantomdenken sein.
Die Schüler-Lehrer-Beziehungen und die Relationen zwischen Chef und Mitarbeiter wandeln sich, wir sind im Prinzip frei!
Wir haben so viel verinnerlicht. Das Objektive ist ganz weitgehend verändert (nicht so ganz, aber weitgehend), wir sind nicht mehr Sklave, die Frau wird nicht unterdrückt, der Lehrer ist nicht Herrscher, der Chef kein Diktator, der Deutsche kein Fremdenhasser, kein Ossi oder Wessi. Objektiv ist das alles amputiert, aber wir haben alle diese überholten Bindungen und gar Hassgefühle früher einmal tief innen angenommen. Das Denken ist noch nicht vom Amputierten frei, es denkt und fühlt, als sei das Alte noch da. Wir sind noch Kolonisierte. Die Phantome sind noch da.

Wie verjagen wir sie?
Wir haben die Grenzen objektiv aufgehoben, schaut alle hin, sie sind weg! Nun müssen wir zur Grenze gehen, jeder und jede an diese seine oder ihre, und den anderen auf der anderen Seite die Hand reichen und uns mit ihnen im Kreise drehen, so dass man nicht mehr weiß, wer von hüben oder drüben war…
Sonst drehen uns die Phantome im Kreise… an der Nase… aufs Kreuz. Sonst ist das freie Denken selbst ein Phantom. Nach der Aufklärung, dem Enlightenment, und der objektiven Veränderung der Zustände muss auch die Emanzipation und die Entkolonialisierung des Selbst folgen.

Gunter Dueck

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