Psycho ist weiblich, Neuro ist männlich (Daily Dueck 171, Juli 2012)

Nach allgemeiner Vorstellung gibt es in uns Kräfte und Fähigkeiten, die wir den Rubriken „Geist“, „Seele“ und „Körper“ zuordnen. Der Geist steht in der Philosophie immer am höchsten! Sie befasst sich deshalb vor allem mit dem Geist. Wahrscheinlich aber liegt es mehr daran, dass sich der Geist als das mehr Bewusste im Menschen leichter wissenschaftlich erforschen lässt und „uns vom Tier abhebt“. Unsere Seele ist uns zwar als solche bekannt, wird aber mehr unter „Psyche“ gesehen und mit dem „ganzheitlich Unbewussten“ assoziiert. Psychologie gibt es noch nicht so lange… Schwierig, schwierig, sie ist nicht so wirklich wissenschaftlich oder oft irrelevant für’s Leben, wenn sie es ist. Aber jetzt gibt es Neuro! Hoch lebe Neuro!

Ich hole weit aus: In meiner jüngeren Zeit war Psychologie in großer Mode. Sie verkomplizierte sich leider zusammen mit der Soziologie immer mehr und beeindruckte durch blütenreiche Fremdwörterschöpfungen, die im Fernsehen oft eine gute Basis für satirische Kabaretteinlagen darstellten (das Wort „Comedy“ gab es früher nicht, die Qualität der Sendungen war noch relativ einheitlich und machte noch keine Abstufungsbezeichnungen erforderlich). Man machte sich über die Psychos lustig, die nach „präembryonalen Transvestionsneigungen“ forschten, wenn jemand bunte Unterwäsche trug. Alles psycho, oder was? Man psychologisierte alles so unmäßig, dass sich die Psychologie wesentlich diskreditierte und sich wieder zurückzog – teilweise in Lebenshelferbestseller, die nun „dank Psychologie“ alles leicht machten: Freunde finden, Erziehung, Teamarbeit, Miteinanderleben, Schule, Lernen und das Wiederfinden von Glück und Sinn. Eine insgesamt heilere Welt schien möglich. Sie ist heute noch nicht eingetreten, aber die Bücher dazu gibt es immer noch, Tendenz wachsend. Wir wollen endlich eine gesunde Seele! Wir wollen sie verstehen, uns verstehen, in uns hineinhorchen, die Zusammenhänge be-greifen, unsere Gefühle ordnen und uns weiterentwickeln.

Ich habe vor einigen Jahren sehr beeindruckt ein Buch des amerikanischen Psychiaters Peter Breggin gelesen. Es erschien 1991. Titel: Toxic Psychiatry: Why Therapy, Empathy and Love Must Replace the Drugs, Electroshock, and Biochemical Theories of the "New Psychiatry". Im Deutschen heißt es Giftige Psychiatrie und plädiert leidenschaftlich für humanistischere Ansätze der Psychiatrie. Darin findet sich ein Abschnitt mit dem Titel „Der biologisch[orientiert]e Psychiater als Karikatur männlicher Werte“. Wenn jemand in der Praxis eines solchen typischen, auf das Biologische fixierten Psychiaters Wut, Trauer, Angst oder andere starke Gefühle zeigt, zückt er den Rezeptblock. Traurige bekommen Antidepressiva, Energiebündel Ritalin etc. Das Problem wird schnell am Symptom erkannt und durch eine energische Aktion gelöst. Breggin kritisiert, dass dem Patienten nicht lange zugehört wird – mehr Zeit geht drauf, die Dosis der Medikamente richtig einzustellen.
Breggin ist brachial kritisch – und da ich noch nie mit der Psychiatrie „in Konflikt kam“, kann ich mich nicht wirklich objektiv anschließen. Ich möchte nur von weitem als Beobachter meine Sicht weitergeben, dass die typische Karikaturen der Männer tatsächlich fast generell alle Probleme im Management mit solchen Aktionen lösen. Sie betreiben keine Seelenerforschung. Nein, nach einer einzigen Stunde Meeting wird schon entschieden, beschlossen und möglichst sofort „executed“.
Wenn ich das von weitem so sehe, drängt sich mir der Eindruck auf: Psychologie ist mehr „feeling style“ oder platt gesagt „weiblich“, Psychiatrie ist „thinking style“ und mehr „männlich“. Diese Begriffe meine ich gar nicht so stammtischniveauartig wie es sich jetzt vielleicht liest. Lesen Sie kurz aus dem Artikel „MBTI“ aus der Wikipedia den folgenden Ausschnitt:

„F oder T – Feeling oder Thinking
Dies beschreibt die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden. Der Denker (thinking) betrachtet die ihm vorliegenden Informationen eher von einem rationalen Standpunkt und versucht, mittels objektiver Wertesysteme (z. B. Gesetze) zu Entscheidungen zu gelangen. Er ist resultatorientiert im Sinne der optimalen Lösung der Sache. Der Fühlende (feeling) beachtet seine persönlichen Wertesysteme (Moral) stärker. Er urteilt entsprechend dieser Systeme und ist bemüht, alle Parteien zu einer Lösung der Sache mitzunehmen… Schätzungen zufolge sind etwa zwei Drittel der Denker Männer und etwa zwei Drittel der Fühler Frauen.“

Wollen Sie es ganz genau wissen? Dann verweise ich Sie auf die offizielle MBTI-Webseite zu „Thinking“ versus „Feeling“:
http://www.myersbriggs.org/my-mbti-personality-type/mbti-basics/thinking-or-feeling.asp

Psychologie versteht die Lage, Psychiatrie oder Medizin beherrschen sie… Es sind einfach zwei verschiedene Betrachtungsweisen oder Problemzugänge. Lange psychoanalytische Sitzungen sind oft auch quälend erfolglos – genau wie die Dauergabe von Psychopharmaka. Man kann das eine wie das andere ad absurdum führen. Aber das „thinking principle“ zieht oft ganze Industrien im Hintergrund auf, die zu großem Business und zu mächtigen Lobbys führen. Pharmaka sind Big Business, auch etwa das gigantische Anti-Cholesteringeschäft. Solche Wellen verselbstständigen sich, Unwirksamkeitsstudien werden aus angenommener Angst ignoriert. „Ich nehme Vitamine, sicher ist sicher, Antifaltenpastillen auch!“


Und jetzt kommt Neuro! Es wird wieder so eine gigantische Welle daraus werden, da bin ich sicher.
Neuro ist ja so modern. Alles wird damit bevorsilbt. Neuromarketing, Neuromanagement, Neurovertrieb, Neurodesign, Neurobehavioral Systems, Neurodidaktik, Neuroengineering oder Neurodoping. Besuchen Sie die Website drinkneuro.com! „Happyness in every bottle“ oder „Mental performance in every bottle“. Alles wird Neuro, und es hat neuerlich für mich den Touch, dass wir nur wieder Methoden anwenden oder etwas Teures schlucken müssen, um gleich eine Menge Erfolg zu haben und die Probleme schnell zu lösen. „Neueste Ergebnisse der Hirnforschung standen bei unserer Neuentwicklung Pate.“

Neuro wird ein viel größeres Business als das der Pharmaka, weil wir doch jetzt ALLE irgendwie „neuro“ sind – so wird uns bald klargemacht werden. Jeder, der ein Hirn hat, wird es erfolgreich behandeln wollen?! Neuro wird oder ist schon männlich wie „thinking“, fürchte ich.

Davor möchte ich warnen! Nicht vor „Neuro“ an sich – ich warne vor einer Geisteshaltung, die Macht ausüben will oder Geschäfte mit Erfolgssucht macht. Neuro bringt Euro.

Gunter Dueck

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