Über Bildung, Schulvollpfropfen und Bachelorziegelsteine (Daily Dueck 168, Juni 2012)

„Bildung ist so wichtig, dass wir mehr in sie investieren müssen!“ Das hört man jetzt immer wieder, besonders von Interessengruppen, die mehr Geld für sich reklamieren. Bildung verkommt irgendwie zu einem Finanzproblem, auch in ein Effizienzgeschacher um Klassengrößen, Deputate und Verschulungsverdichtung. Das betrübt mich so sehr, dass ich periodisch daran erinnern möchte, dass bei allem Streit um Interessen, Reformen, Internet und Geld das Ziel nicht aus den Augen verloren wird: Bildung.

Für mich ist das, was Bildung ist, am besten und ganz amtlich in meinem Neuen Brockhaus in fünf Bänden beschrieben (von 1960), den ich mir zur Konfirmation wünschen musste.

Bildung: Der Vorgang geistiger Formung, auch die innere Gestalt, zu der der Mensch gelangen kann, wenn er seine Anlagen an den geistigen Gehalten seiner Lebenswelt entwickelt. Gebildet ist nicht, wer nur Kenntnisse besitzt und Praktiken beherrscht, sondern der durch sein Wissen und Können teilhat am geistigen Leben; wer das Wertvolle erfasst, wer Sinn hat für Würde des Menschen, wer Takt, Anstand, Ehrfurcht, Verständnis, Aufgeschlossenheit, Geschmack und Urteil erworben hat. Gebildet ist in einem Lebenskreis, wer den wertvollen Inhalt des dort über-lieferten oder zugänglichen Geistes in eine persönlich verfügbare Form verwandelt hat.

Ach ja, könnten wir diese Beschreibung doch als Common Sense gemeinsam in uns tragen! Heute wird Bildung vielleicht nur noch als Vorstufe zur Berufsfähigkeit gesehen – es reicht also für eine Abiturprüfung oder einen Bachelorabschluss völlig aus, wenn man nur Kenntnisse besitzt und Praktiken beherrscht. In der oben genannten Definition aber wird explizit gesagt, dass man dann NICHT gebildet ist!
Die Schule und das Studium werden immer mehr modularisiert und in Prüfungsbausteine („Ziegelsteine“, „Brick in the Wall“) zerlegt. Im Grunde wird die Bildung industrialisiert. Dadurch wird das Wertvolle allenfalls auswendig gelernt, aber nicht erfasst. Die Forderung nach geistiger Teilhabe am Leben lässt Sie heute vielleicht schon breit lächeln. Die Vorstellung, wertvollste Inhalte in eine PERSÖNLICH verfügbare Form zu verwandeln, fällt der Modularisierung ohnehin glatt zum Opfer. Wie kann denn der heute junge Mensch „seine eigenen Anlagen an den geistigen Gehalten seiner Lebenswelt entwickeln“? Wie verstehen wir „Lebenswelt“? Lateinlernen und von anderen Kulturen nur das Wort „Koran“ oder „Der Weg ist das Ziel“ kennen? Was ist das heute Wertvolle? Diskutieren wir das?

Nein, es wird über fehlendes Geld gestritten, um die Prozentsätze, wie viel vom Bruttosozialprodukt in das „Bildungssystem“ verschoben werden muss, damit die nächste Weltstudie gnädig mit uns ist. Die Inhalte stehen in dürrer Tabellenform in Prüfungsordnungen festgenagelt. Niemand stört sich daran, dass fast jeder weiß, dass er nur die Prüfung besteht, im Grunde aber alles gleich wieder vergessen kann, weil es zu lebensfern war.
Das Internetzeitalter muss notwendig zu einem neuen Verständnis führen, was heute „der wertvolle Inhalt des zugänglichen Geistes“ darstellt. Was sind die Bildungsinhalte von heute, morgen und jeden neuen zukünftigen Tag? Wir müssen doch freudig neu gestalten, lebensnaher bilden, Inhalte und Ziele besprechen… Das Wissenszeitalter sollte mit einem Aufbruch beginnen, nicht mit dem Einbalsamieren unsere Kultur in Prüfungsordnungen. Wir brauchen neue wache Menschen, und keine kulturstumpfen Ziegelsteine. Schlagt das obige Bildungsverständnis an jede Wand!


Gunter Dueck

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