Über das Angriffsloben (Daily Dueck 167, Mai 2012)

Die Deutschen schimpfen, andere Völker granteln – über das schlechte Bildungswesen, die Politik im Allgemeinen oder den Stress zu Weihnachten. Aber wehe, einer will etwas daran verändern! Dann fällt allen plötzlich wieder ein, wie ideal alles ist. Und dieser Reflex stellt sicher, dass alles mies bleibt. Für immer.

Seit vielen Jahren schreibe ich über die nahe und real nahende Zukunft. Ich lobe das Kommende gar nicht einmal oder mache mich zu seinem Protagonisten. Ich sehe nur: sie kommt. Und gerade die Leute, die das Gegenwärtige ätzend bespucken, ziehen dann über die Zukunft her, indem sie das Heutige über allen Klee loben.

Videos im Unterricht oder Univorlesungen im Internet: In Zukunft werden die allerfeinsten Lehrer und Professoren, die Leuchten ihrer Zunft, den Unterricht oder die Vorlesungen in bestmöglicher Didaktik präsentieren und die jungen Köpfe vor Lerneifer erglühen lassen. Noch ganz unbekannte Lehrformen werden das alles toppen. Es sieht nach Neuaufbruch aus. Huiih, das ist schlimm. Der typische Gegner: „Das wichtigste beim Lernen ist der Lehrer, ohne den es nicht geht. Der ist ein Mensch und leitet das Kind behutsam mit großer Liebe. Ohne Augenkontakt zugeneigter Seelen stirbt die Bildung ganz gewiss.“ Ich frage, warum der Befürworter selbst die Schule gehasst hat. „Das ist ein Einzelfall, im Übrigen habe ich das nie so gesagt.“ Noch ein Gegner: „Ohne die persönliche Präsenz des Gelehrten ist eine Vorlesung nicht denkbar.“ Ich frage, warum er selbst beim Repetitor lernte, weil der Professor nichts brachte – ja, und: „Warum erhalten Professoren ausschließlich für Forschungsleistungen die Lehrbefugnis? Würde man einem, der Muskelphysiologie oder Ballologie erforscht hat, DESWEGEN eine Fußballtrainerlizenz erteilen?“

Neue Formen des Gottesdienstes im Internet und überhaupt: Der katholische Kirchentag 2012 stand unter dem Motto „Einen neuen Aufbruch wagen“. Es muss also schon einmal früher einen gegeben haben!? Egal. Warum gibt es nur Orgeln, wo wir doch jetzt richtig Musik mit Heimkinoanlagen machen könnten? Männerzwang? Leere Kirchen und bald weite Anfahrten zum Seelsorgeeinheitszentrum? Wer das fragt, bekommt Überkleekirchenlob zurück: „Der Pfarrer vor Ort ist die tragende Säule der Gemeinde und ein unverzichtbares Element des Lebens und der Kultur. Er füllt die Herzen der Gemeinde mit bewegenden Predigten, die viele Seelen retten.“ Ich gebe zu bedenken, dass gerade geklagt wurde, dass aus Osteuropa stammende Pfarrer das Deutsche zum Teil nur schlecht vom Blatt vorlesen. „Das ist ein Einzelfall. Man könnte das Problem, wenn es denn eins wäre, leicht durch die Wiedereinführung von Latein lösen.“

Wenn irgendjemand etwas Neues vorschlägt, wird er mit den prinzipiell möglichen Vorteilen des gegenwärtigen Systems konfrontiert. Man zeigt ihm das Jetzige so verklärt, wie es ursprünglich gedacht worden sein könnte. Das aber ist so ideal, dass es kaum kritisiert werden kann. Dieses Ideal vergleicht man nun mit den Mängeln der gerade entstehenden Zukunft.

Politik: „Die Piraten wollen unsere wundervolle freiheitliche Demokratie aushöhlen, die Deutschland schon seit mehr als äh vielen Jahrhunderten prägt. Demokratie gibt die Macht an die feinsten und erlesensten Köpfe unseres Landes, die es weise und umsichtig regieren, sodass das Volk vor ihnen dankbar das Knie beugt.“

Das ist aggressives Hochloben des Gegenwärtigen, um es gegen Veränderungen zu verteidigen. Ehrliche Menschen fragen sich, ob das alles ernst gemeint sein kann? „Es ist unsere Position.“ Es geht nicht um die Wahrheit, sondern um die Positionierung des Jetzigen, das für bestmöglich erklärt wird, damit es nicht verändert werden muss. Denn nur das Bestmögliche kann nicht besser gemacht werden. Ach, wie hasse ich dieses Wort „positionieren“! Sieht denn niemand das Übel? „Man muss alles positiv sehen. Optimismus ist Pflicht. Wer nicht begeistert ist, fliegt raus. Unsere Position hat nichts mit der Realität zu tun, sie ist eine Frage der charakterlichen Einstellung.“


Gunter Dueck

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