Links im Sinnraum
Phatische Kommunikation, das Smartphone und Facebook/Twitter (Daily Dueck 166, Mai 2012)
Das Wort phatisch wird ziemlich selten gebraucht. Ich krame es wieder hervor. Wenn Menschen miteinander kommunizieren, brauchen sie ein technisches Medium dafür. Sie können telefonieren, reden, mit Blicken werfen, Zeichen geben, Simsen oder mit dem Körper sprechen. Das ist technisch! Für die wirkliche Kommunikation wird aber Aufmerksamkeit gebraucht. Die gegenseitige Aufmerksamkeit eröffnet den wirklichen Kontakt. Das ist die phatische Kommunikation. Zwei Menschen stellen den Kanal auf „offen“.
Sie können den Kontakt zu anderen Menschen so eröffnen: „Entschuldigen Sie bitte…“ oder „Dürfte ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten“ oder „Darf ich auch einmal etwas sagen“ oder Sie können ans Glas klopfen, weil Sie eine Rede halten wollen. Da werden Sie von den jeweils anderen angeschaut. Ihnen wird Aufmerksamkeit geschenkt oder (wenn Sie Chef sind oder ein schlechter Redner) mürrisch gegeben.
Wenn Sie viel zu sagen haben, müssen Sie die Aufmerksamkeit
der anderen ständig erneuern oder sie sich über längere
Zeit erhalten. Wer wirklich etwas zu sagen hat, hält die Aufmerksamkeit
durch die gebotenen Inhalte und die Art der Darstellung fest, die
Augen hängen an des Sprechers Lippen, die Zuhörer sind gebannt.
Sie werden inspiriert, unterhalten oder durch neue Erfahrungen schlau…
Und sonst? Da muss sich der Lehrer räuspern: „Hallo? Ihr
seid in der Schule. Aufpassen! Auch du da in der Ecke!“ –
Der Chef im Meeting: „Bitte nicht durcheinander, wir haben nur
ein Meeting, und das leite nun einmal ich.“ Wer die phatische
Kommunikation immer nur durch solche Appelle aufrechterhalten kann,
hat in der Regel nichts zu sagen, ist langweilig, überflüssig,
wird ignoriert.
Heute können Sie zu jeder Zeit den Phatischen Test machen: Beginnen
Ihre Zuhörer, in die Gegend zu schauen? Aus dem Fenster? Tippen
Sie auf Smartphones herum? Auf Tablets? Der Blick auf die eifrigen
Bildschirmtipper und Fingerwischer zeigt, dass die Kommunikation beendet
oder minimiert wird. Wenn Sie mächtig sind, also Zensuren oder
Gehaltserhöhungen verteilen dürfen, dann können Sie
die Aufmerksamkeit erzwingen. „Handys aus! Vorne abgeben! Ich
bin sehr böse, dass ihr euch nicht interessiert!“ Da brüllen
Sie, anstatt interessant zu sein. Da wandern die Blicke weg vom Smartphone
in die Natur hinaus oder sie suchen andere Augen… Man sagt:
Die Aufmerksamkeit sinkt. Der, der Aufmerksamkeit befiehlt und nicht
bekommt, redet von Aufmerksamkeitsstörungen und erklärt
für krank oder ungehorsam, wer nicht interessant findet, was
von der Macht für interessant erklärt worden ist. „Das
ist für das Leben wichtig!“ – „Aber wir brauchen
es später nie!“ – „Es schult das logische Denken.
Es ist völlig egal, woran man das übt.“ – „Wenn
das egal ist, lasst es uns an Interessantem üben!“ –
„Das geht nicht, weil man dazu den Lehrstoff ganz neu definieren
muss. Außerdem lernt ihr dann vielleicht alles ganz wahnsinnig
schnell, nur weil es euch interessiert. Es könnte sein, dass
dann das logische Denken nicht so erblüht wie bei Uninteressantem.
Egal, ich selbst musste da auch durch, danach noch potenziert ein
ganzes Studium lang. Ich sehe nicht ein, warum ihr es besser haben
solltet.“
Das Baby übt phatische Kommunikation. Wenn Mama kurz weg ist,
quarrt es. Mama muss in die Augen schauen! Da ist es ruhig. Das Baby
will nicht allein sein.
Introvertierte dagegen bemühen sich, keine phatische Verbindung
zu eröffnen, sie schauen weg, grüßen nicht, schleichen
in ihr Büro und vermeiden Kontakte.
Facebook und Twitter „sind phatisch“! Dort sind wir wie
Babys. „Hallo?“ – „Hallo!“ – „Ich
habe Muntgeruch“ – Like.Like.Like. „Spül mit
Teerbauöhl!“ Like. Like. Facebook und Twitter halten die
Kanäle zur Welt aller Freunde offen. Wenn jemand „Heute
regnet es überall! Bei euch auch?“ twittert, zeigt, dass
er jetzt seine Aufmerksamkeit in die weite Welt richtet. Er ist da.
Er passt auf. Er kümmert sich. Die Mutter schaut bei Facebook
und sieht: Teen ist online. Teen ist da.
Die Introvertierten, die Google+-Debattierer und die Internet-Agnostiker
erregen sich über die erbärmlichen Inhalte im Netz. „Müll
aus kranken Hirnen! Wer das liest, muss doch Abscheu empfinden!“
Sie bestehen auf wichtigen, bedeutsamen Inhalten, die mit +1 bewertet
werden können. Dabei geht es ihnen gar nicht um Aufmerksamkeit,
sondern um Respekt, Bewunderung und Beachtung. Die Erbärmlichkeitshasser
wissen irgendwie nicht, was phatische Kommunikation ist. Oder Sie
leiden/litten unter einer Mama, die ihnen als Baby nicht die Aufmerksamkeit
geschenkt hat, wenn sie sie brauchten – sondern sie mussten
Papa Aufmerksamkeit schenken, wenn dieser es so wollte. „Baby!
Schau mich an! Baby, schau auf das Mobile, sonst bist du zurückgeblieben.“
Kontrollväter und Inspektorinnen strafen doch durch Aufmerksamkeit,
sie schenken sie nicht… Im Arbeitsleben ist Aufmerksamkeit fasst
identisch mit „kontrolliert werden“, die Höchststrafe!
„Fokussiert euch auf den Gewinn!“ Oh, das ist ein weites
Feld…
Kontrollierer, müsst ihr die Freude des digitalen phatischen
Blicks durch Niveaudiskussionen diskreditieren oder kritikwürdige
Inhalte suchen? Lasst doch die Phatischen auf Twitter und Facebook
in Ruhe!