Nichts ist mehr wahr – dank TV-Gladiatoren-Polar-Talk (Daily Dueck 165, April 2012)

Ist Zucker schädlich? Sind Arbeitslose faul? Sind Manager gierig? Ist privater Waffenbesitz wichtig, weil der Schützenverband eineinhalb Millionen Mitglieder hat, von denen 99,9 Prozent nie Amok laufen? Sind Schießspiele gemeingefährlich oder machen sie nur dumm? Ist Facebook unser Feind? Soll die Kirche den Opfern 5000 Euro zahlen oder reicht die Hälfte nicht auch? Jeden Abend werden solche wichtigen Fragen im TV diskutiert. Ist eine davon je oder nur irgendwie beantwortet worden? Oder schauen wir uns die Talks wie Fußballübertragungen an?

Mir ist neulich das passiert. Ich wurde angerufen, ob ich eine bestimmte Meinung, die man mir erklärte, in einer TV-Sendung vertreten könnte. Ich bot meine eigene an, die ich besser fand. Der Anrufer legte routiniert entschuldigend auf. Er suchte Kontrahenten mit polar entgegengesetzten Ansichten, damit sie sich schön unter den interessierten und manipulierenden Augen einer Moderatorin wie Hähne bekämpfen.
Wozu ist das gut? In der Schule haben wir die Grundzüge der Dialektik gelernt, die Kunst, ein klärendes Gespräch zu führen. Der eine vertritt seine Ansicht, die er These nennt, der andere vertritt vielleicht sogar das ganze Gegenteil, die Antithese. Beide, These und Antithese, sind irgendwie wahr und beide irgendwie falsch, das wird den beiden im Verlaufe des Gespräches klar, und so finden sie unter Mühen schließlich etwas auf einer höheren Ebene, was sie Synthese nennen. Nicht einen Kompromiss – das wäre etwas, was falsch ist, aber für beide akzeptabel klingt. Nein, etwas Höheres, was dann beiden (!) als wahr gelten kann.

Gladiatorenkämpfe aber führen zu keiner Synthese, sie ist gar nicht beabsichtigt. Da sollen sich die polar ausgesuchten Kontrahenten argumentativ zerfleischen und gegeneinander dauernd ins Wort fallen, besonders wenn der jeweils andere vielleicht Wertvolles zu sagen hat. Das muss durch Zwischenreden verhindert werden! Krach soll es geben! Gaudi ja auch, wir sollen uns an Blamagen und strammen Sprüchen laben und die Quote heben – was denn sonst?
Viele Politiker sieht man nicht mehr in den Talkshows, weil sie ja Gefahr laufen, Verletzungen davon zu tragen, weil es nur um das Verletzen geht. Einige Veteranen sind inzwischen unverwundbar geworden, wie Norbert Blüm und Heiner Geißler, denen man sogar eine eigene Meinung erlaubt, weil sie goldig authentisch ist, also ziemlich extrem. Der Trigema-CEO ist aus naheliegenden Gründen unverwundbar, Gregor Gysi auch, und Ursula von der Leyen kann alles durch Einflechten von „zu Hause“ entschärfen. „Hat nicht die CDU im Jahr 19xy versagt?“ – „Ach, ich erinnere mich, da ging ich mit dem zten Kind schwanger!“ In Filmen gibt es ab und zu die Szene eines Geistlichen, der eine nicht arg bekleidete Schönheit ansehen muss. Da betet er schwer atmend das Vaterunser. Genauso kommen mir die Politiker vor, die man ab und an im Ringen um den Sieg vor harte Fragen stellt. Dann beten sie ihr Parteiprogramm runter… Unter Stress muss man sofort offiziell werden – das ist in einem anderen Kontext, bei Tieren, so etwas wie totstellen.

„Na und?“, könnten Sie sagen, „Es sind eben die Medien mit den Quoten!“ Das weiß ich ja, aber wenn es nun gar keine Synthesen mehr im Fernsehen gibt? Wenn die Welt bei jedem Fitzelchen in These und Antithese unversöhnlich gespalten bleibt? Kann uns eine Welt gefallen, in der nichts mehr wahr und nichts mehr falsch ist? In der wir uns in nichts einig sind und auch nicht sein wollen? In der wir über alles herfallen, anstatt etwas einmal auch stehen zu lassen und zu respektieren? Haben wir noch Werte, über die nicht mehr in TV-Talks hergefallen wird? Christlichkeit? Solidarität? Gemeinschaft? „Ja, ja, aber das Leben sieht anders aus, es ist keine Sozialstation, es ist ein Kampf um das Überleben, damit die Überlebenden die Evolution und den Fortschritt vorantreiben…“

Die Mächtigen haben seit eh und je dadurch geherrscht, dass sie die Wahrheiten besser kannten und unter sich behielten. Das tumbe Volk, das nicht mit Wahrheit verrückt gemacht werden darf, bekam Brot und Spiele. Heute gibt es kein Brot mehr, nur noch die Spiele. Wir sehen Leuten zu, wie sie mit den möglichen Wahrheiten, Werten und Überzeugungen ihr Spiel treiben. Und wenn unsere Ansicht gerade nicht gewinnt (im Falle, dass wir eine haben)? Zapp-zapp.

Gunter Dueck

© 2005 Gunter Dueck l design: nukke.de (ad+bvp)