Links im Sinnraum
Genehm(igt)es Reden im Parlament, Piraten & Trolle (Daily Dueck 164, April 2012)
Die beiden großen Fraktionen, dazu auch eine, die es bald nicht mehr gibt, beantragen, dass Redner im Bundestag nur noch nach ihrer vorherigen Genehmigung auftreten dürfen. Wie geht das? Redner müssen wohl die Redemanuskripte schriftlich einreichen, korrigieren und auf einen in der Regel konform-langweiligen Inhalt verkürzen, damit nur die Reden ihrer Anführer in den Fernsehnachrichten vorkommen können. Stellen Sie sich das Desaster vor, ein Wasserträger rafft sich zu einem reißerischen Spruch oder gar zu einem schlagenden Argument auf, der dann die ganze Airtime im TV verbrät! Wozu haben sich dann die Anführer ihre Reden schreiben lassen?
Darf man im Bundestag einfach so reden, nur weil man von seinem Wahlkreis
als Vertreter bestimmt wurde? Ist die Rede frei? Das Wort „frei“
wird in diesem Zusammenhang in zwei Kontexten benutzt. §13(1)
der Geschäftsordnung des Bundestages legt fest: „Jedes
Mitglied des Bundestages folgt bei Reden, Handlungen, Abstimmungen
und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen.“ Der
Abgeordnete soll also (soll, nicht darf!) nach seiner eigenen Überzeugung
reden. Und §33 lautet: „Die Redner sprechen grundsätzlich
in freiem Vortrag. Sie können hierbei Aufzeichnungen benutzen.“
Ich würde das naiv so lesen: Die Redner dürfen nicht ablesen,
sondern sie müssen eine freie Rede halten, zu der sie sich vorbereitete
Stichpunkte auf länglichen Zetteln mitbringen dürfen.
Jetzt wird beides irgendwie umgedreht. Die Rede wird schriftlich zur
Genehmigung eingereicht, und sie muss exakt vorgelesen werden. Freiheit
+ Freiheit ade.
Die Piraten machen das anders! Da darf jeder, aber absolut jeder seine freie Meinung äußern. Das begeistert, das zieht uns sympathisch an. Da wird getweetet, gepostet, commentet und gevotet. Jeder soll mitmachen, nicht nur der Abgeordnete, auch alle Mitglieder und sonstigen Menschen! Die Piraten beginnen ein großartiges Experiment als Gegenentwurf zum Machtdiktat gewisser Parteien.
Jetzt branden die Wogen hoch. Alles frei oder alles unter Kontrolle?
Wieder wird polar alles in Gutes und Böses geschieden. Dabei
geht es darum, – nur darum – eine verantwortungsvolle
Debattenkultur zu pflegen. Die können Bla-Bla-Redner ruinieren,
und es wäre gut, sie würden schweigen. Die Debatten werden
oft von Schwätzern, Blendern und Aufmerksamkeitshäschern
missbraucht oder einfach nur kaputtgeredet. Zitat von Cipolla: „Dummheit
ist, wenn man anderen schadet, ohne sich selbst zu nützen.“
Unter diesem Gesichtspunkt sollte man einmal die Reden neu anhören…
Es geht einfach darum, wie eine gute Kultur geschaffen und erhalten
werden kann. Das werden die Piraten auch bald spüren! Solange
der echte Kern sich noch kennt, solange sie noch wenige sind, die
sich gegenseitig zu Verantwortung und Konstruktivität mahnen
können, kann man alles im Internet transparent und geduldig abwickeln,
aber dann? Was dann, wenn wirklich alle mitmachen? Dann kommen die
Trolle, Abweichler und Zerstörer, die Extremen und Langweiler
– vor allem solche, die immer neu in eine schon fortgeschrittene
Debatte eintreten und wieder alle Argumente von vorne beginnen. Wenn
zu viele unorganisiert reden und kommen und gehen, kann man keine
tieferen Argumente mehr debattieren. Unorganisation hält Diskussionen
zwangsläufig an der Oberfläche. Das merkt man schon vereinzelt
bei den Piraten, die mit ihren Urheberrechtspositionen à la
„alles ist frei im Netz“ von anderen vollkommen undifferenziert
wahrgenommen werden, nur weil es Einzelne bei ihnen gibt, die das
so undifferenziert verbreiten… Wenige Trolle genügen, alles
wieder auf Stammtischniveau zu vereinfachen. Auch die Piraten werden
dieses Problem irgendwie lösen müssen.
Das Ziel muss doch immer die fruchtbare Debatte sein! Bei den schon
lange etablierten Parteien scheint es immer weniger um Fruchtbarkeit
und Regierungsverantwortung zu gehen, sondern um kontrollierte Machtstrategien.
Die alten Parteien hatten vor Jahrzehnten sichere Positionen, aus
denen heraus sie in gewisser Ruhe auch vernünftig regieren und
debattieren konnten. Jetzt agieren sie im Stress-Survival-Modus und
kommen womöglich auf die Idee, dass die Redenschreiberhundertschaft
des Parteivorsitzenden gleich für alle seine Abgeordneten massenweise
Reden verfasst, die zu Vorlesen an die Abgeordneten nach Gutsherrenart
zugeteilt oder vielleicht sogar ganz gerecht verlost werden.
Auf der anderen Seite denken die Piraten noch zu naiv, dass alles
besser wird, wenn ganz viel diskutiert wird. Ich weiß ja nicht,
irgendwann kommt „viele Köche verderben den Brei“
zum Vorschein.
Es geht doch nur um halbwegs verantwortungsvolle Leitung der Debatte, damit sie fruchtbar bleibt und zu Ergebnissen und Konsensbildungen auf möglichst hohem Niveau führt. Die geplanten Redegenehmigungsprozeduren zielen darauf überhaupt nicht! Schäme sich, wer die will! Aber diese Prozeduren werden ihr eigentliches Ziel voll erreichen, nämlich das Betreiben von Machtpolitik. Die Piraten zielen auf das eigentliche Ziel der fruchtbaren Debatte, aber mit zu extremen Konzepten. Die einen haben ein schlimmes Ziel und erreichen es, die anderen ein gutes Ziel und erreichen es so bald nicht…
Unser Bundestagspräsident Lammert ist so einer der verantwortungsvollen Menschen, die es ja in jeder Partei noch gibt. Man könnte ihm alles weiterhin anvertrauen… Reicht das aber, wenn sonst Verantwortungslose die Macht ausüben? Reicht es, wenn ein paar Menschen die ganze Kultur hochhalten müssen, wie ein einziger Atlas-Titan den Himmel? Ich hoffe, die Piraten finden dann doch ein gesundes Konzept… das brauchen wir ganz nötig, wir alle, deren Politikverdrossenheit bestürzende Ausmaße angenommen hat.
Altparteien: Zurück zum Sinn des Ganzen! Piraten: Vorwärts zum Sinn des Ganzen!
Zur Abschreckung lesen Sie am besten jetzt noch den Artikel „Filibuster“
in der Wikipedia. Ich zitiere einen Abschnitt daraus, damit Sie es
echt auch tun:
Die längste Einzelrede mit einer Gesamtlänge von 24 Stunden
und 18 Minuten hielt Senator Strom Thurmond aus South Carolina am
28. August 1957, um den Civil Rights Act von 1964 zu verhindern, der
Afroamerikanern die Wahrnehmung des Wahlrechts erleichtern sollte.
Nach Ausführungen zur Sache zitierte er unter anderem die Unabhängigkeitserklärung
der Vereinigten Staaten, die Bill of Rights und die Wahlgesetze sämtlicher
Bundesstaaten. Auch über Kuchenrezepte seiner Großmutter
referierte er im Rahmen dieser Rede. Thurmond hatte seinen Filibuster
angekündigt und vorbereitet. So war er zuvor in einer Sauna gewesen,
um während der Rede nicht auf die Toilette zu müssen. Falls
dies doch eintreten würde, stand im Nebenraum ein Mitarbeiter
mit einem Eimer bereit, so dass der Senator seine Notdurft hätte
verrichten können, während er immer noch mit einem Bein
im Senat anwesend war. Auch die Senatskollegen hatten sich auf die
lange Rede eingestellt und Decken mitgebracht. Am Ende seiner Rede
wurde seine Sprache undeutlich und monoton. Die New York Times schrieb
darüber, dass die zitierten Gesetzespassagen „genauso gut
aus dem Telefonbuch“ hätten sein können. Insgesamt
dauerten die Beratungen für das Gesetz 57 Tage, in denen der
Senat keine anderen Beschlüsse fassen konnte. Thurmonds Einsatz
war letzten Endes vergebens, da schon kurz nach seiner Rede das Gesetz
verabschiedet wurde, aber seine Anhänger bejubelten ihn dafür.